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Dr. Fell legte die Pistole neben die Kerze auf den Tisch. Er zeigte auf etwas, das nach einem Stapel handgeschriebener verfaulter und verschimmelter Folianten aussah, und auf ein Bündel brüchiger brauner Briefe. Mit einem großen Taschentuch wischte er sich den Staub von den Händen.

»Da ihr nun einmal hier seid«, polterte er, »können wir uns gemeinsam daranmachen. Ich habe hier herumgewühlt - nein, mein Junge, setzen Sie sich nicht aufs Bett. Es enthält allerlei Unerfreuliches. Hier, auf den Rand des Tisches. Und Sie, meine Liebe« - zu Dorothy - »können sich diesen Stuhl hier nehmen. Die anderen sind noch voller Spinnen.

Anthony hat natürlich Rechnungsbücher geführt«, fuhr er fort. »Ich dachte mir, vielleicht könnte ich sie finden, wenn ich ein wenig hier herumsuche. Die Frage ist doch, was Anthony vor seiner Familie versteckt hielt. Ich glaube, daß wir hinter einer alten, sehr alten Geschichte her sind. Wieder einmal die Geschichte eines verborgenen Schatzes.«

Dorothy, die sich in ihren nassen Regenmantel kauerte, wandte sich langsam um und blickte zu Rampole hinüber. Dann sagte sie:

»Ich wußte es. Das habe ich doch gesagt. Und als ich dann diese Strophen fand - «

»Ach, das Gedicht!« grunzte Dr. Fell. »Ja. Ich werde später einen Blick darauf werfen. Mein junger Freund hier erwähnte es bereits. Doch wenn man einen Hinweis auf Anthonys wirkliche Tätigkeit finden will, muß man nur sein Tagebuch aufmerksam lesen. Er haßte seine Familie. Er schrieb, sie würden noch dafür bezahlen, daß sie seine Gedichte verspottet hatten. Deshalb versteckte er in seinen Versen eine verborgene Bedeutung, um sie zu verspotten. Ich bin zwar kein besonders guter Buchprüfer, doch hieraus ist klar zu erkennen«, er klopfte auf die Folianten, »daß er ihnen von seinem Riesenvermögen reichlich wenig Bares hinterlassen hat. Natürlich konnte er sie nicht ruinieren, denn das Land - die größte Einnahmequelle - war ein unveräußerliches Majorat. Doch ich glaube fast, er hat trotzdem eine gigantische Summe abzweigen und verbergen können. Goldbarren? Tafelsilber? Juwelen? Ich weiß es nicht. Erinnern Sie sich, im Tagebuch erwähnt er öfter >Dinge, die man kaufen kann, um sie zu vernichten; mit >sie< meinte er seine Verwandten. Außerdem schreibt er: >Ich habe meine Schönen sicher<. Haben Sie sein Siegel vergessen: >All meine Habe trage ich bei mir< - >Omnia mea mecum porto<?«

»Und den Hinweis darauf hat er in den Strophen verborgen?« fragte Rampole. »Den Hinweis auf das Versteck?«

Dr. Fell schlug seinen altertümlichen Umhang zurück und zog Pfeife und Tabaksbeutel hervor. Er zerrte an dem schwarzen Band des Zwickers und setzte ihn fester auf die Nase.

»Es gibt noch andere Hinweise«, sagte er nachdenklich.

»Im Tagebuch?«

»Zum Teil. Hm. Warum zum Beispiel war Anthony so stark in den Armen? Er war von eher zarter Gestalt, als er Gouverneur wurde. Daran änderte sich auch nichts, außer daß Arme und Schultern immer kräftiger wurden. Das wissen wir doch... Oder?«

»Ja, natürlich.«

Der Doktor nickte mit seinem großen Kopf. »Und dann haben Sie doch selbst diese tief eingeschnittenen Rillen am Steingeländer des Balkons da drüben gesehen, oder? So tief, daß sie bequem den Daumen eines Mannes aufnehmen können«, fügte der Doktor hinzu und betrachtete gedankenverloren seinen Daumen.

»Sie meinen, ein geheimer Mechanismus?« fragte Rampole.

»Und dann«, sagte der Doktor, »und das ist wichtig: Warum hat er einen Schlüssel für die Balkontür hinterlassen? Warum die Balkontür! Wenn er die Anweisungen in den Tresor gelegt hatte, dann benötigte der jeweilige Erbe doch lediglich drei Schlüssel, um daranzukommen: einen zur Tür dieses Raumes, einen für den Tresor und einen für die Metallkassette im Tresor. Warum dann noch diesen vierten Schlüssel?«

»Natürlich weil die Instruktionen mit dem Betreten des Balkons zu tun hatten«, sagte Rampole. »Das war es doch, wovon Sir Benjamin sprach, als er an die Möglichkeit einer Todesfalle da draußen dachte. Schauen Sie, Sir. Diese Rillen in Daumesdicke -glauben Sie, daß da eine Feder, ein Mechanismus, den man betätigen muß - «

»Ach Quatsch!« sagte der Doktor. »Ich habe nie behauptet, daß sie wirklich etwas mit einem Daumen zu tun haben. Ein menschlicher Daumen hätte selbst im Laufe von dreißig Jahren keine so tiefe Kerbe reiben können - wohl aber ein Seil!«

Rampole rutschte von der Tischkante. Er blickte hinüber zur verschlossenen, drohend im schwachen Licht der Kerze schimmernden Balkontür.

»Warum«, wiederholte er laut, »war Anthony so stark in den Armen?«

»Oder, falls Sie noch mehr Fragen wollen«, dröhnte der Doktor und richtete sich auf, »warum ist das Geschick von allen aufs engste mit dem Brunnen verknüpft? Alles weist direkt zum Brunnen. - Und dann ist da natürlich Anthonys Sohn, der zweite Starberth im Amt des Gouverneurs. Er ist es, der uns alle von der richtigen Spur abbrachte. Er starb wie sein Vater an einem Genickbruch und löste die Legende aus. Wäre er im Bett gestorben, hätte es diese Legendenbildung nicht gegeben und wir könnten den Tod seines Vaters Anthony ohne jeden Hokuspokus untersuchen. Wir könnten ihn für sich, als isoliertes Problem betrachten. Doch so geschah es eben nicht. Anthonys Sohn war ausgerechnet zu einer Zeit Gouverneur dieses Gefängnisses, als die Cholera die meisten Insassen auslöschte und diese armen Teufel da unten in ihren modrigen Zellen verrückt wurden. Nun, der Gouverneur dieses Gefängnisses wurde vom selben Fieber verrückt. Es packte auch ihn, und der Wahn wurde übermächtig. Sie kennen doch den Effekt, den das Tagebuch seines Vaters auf uns hatte? Welche Wirkung hatte es dann, was glauben Sie wohl, auf einen nervösen, abergläubischen Mann, der im abergläubischen neunzehnten Jahrhundert von der Cholera befallen wurde? Wie, glauben Sie, wirkt es aufs Gehirn, wenn man direkt über den Ausdünstungen eines Sumpfes leben muß, in den gehenkte Menschen hinuntergeworfen werden, um dort zu verfaulen? Anthony kann seinen eigenen Sohn schwerlich so gehaßt haben, daß er wünschte, er stünde irgendwann im Delirium vom Bett auf und stürze sich vom Balkon hinab. Doch genau das tat der zweite Gouverneur.«

Rasselnd atmete Dr. Fell so heftig aus, daß er fast die Kerze ausgeblasen hätte. Rampole zuckte zusammen. Einen Moment lang war es still im Zimmer. Die Bücher der Toten, die Stühle der Toten und jetzt auch noch deren uralte Delirien waren auf einmal so schrecklich gegenwärtig wie das Gesicht der Eisernen Jungfrau. Eine Ratte huschte über den Boden. Dorothy Starberth hielt sich an Rampoles Arm fest, als hätte sie Gespenster gesehen.

»Und Anthony - ?« meinte Rampole mühsam.

Für eine Weile saß Dr. Fell mit gesenktem Kopf da.

»Es muß sehr lange gedauert haben«, murmelte er geistesabwesend, »eine so tiefe Rille in den Stein zu graben. Er mußte es ja ganz alleine machen, zudem noch mitten in der Nacht, damit ihn niemand sah. Natürlich standen auf dieser Seite des Gefängnisses keine Wachen, deshalb blieb er unbemerkt... Ich neige zu der Annahme, daß er während der ersten paar Jahre einen Gehilfen gehabt hat, bis später seine eigene Kraft ausreichte. Seine phantastischen Körperkräfte entwickelten sich erst allmählich; doch bis dahin brauchte er einfach einen Gehilfen, der ihn herabließ und wieder hochzog... Wahrscheinlich hat er ihn später beseitigt...«

»Warten Sie, bitte!« rief Rampole und schlug auf den Tisch. »Die Rillen wurden also von einem Seil ausgeschabt, weil Anthony jahrelang - «

» - sich selbst daran rauf- und runtergelassen hat.«

»In den Brunnen hinab«, sagte Rampole langsam. Plötzlich hatte er die Vision einer unheimlichen, spinnengleichen Gestalt in Schwarz, die an einem Seil unter dem nächtlichen Himmel schwang. Ein oder zwei Lampen würden oben im Gefängnis brennen. Eine sternenlose Nacht. Und da, wo tagsüber tote Männer baumelten, baumelte Anthony nachts auf seinem beschwerlichen Weg hinunter in den Brunnen...