Ja. Irgendwo da unten, in der Tiefe des Brunnens, Gott mochte wissen wo, hatte er Jahre damit zugebracht, sich ein Versteck auszuhöhlen. Vielleicht hatte er sich sogar jede Nacht hinabgeschwungen, um seine Schätze zu betrachten. Die Ausdünstungen des Brunnens hatten mit der Zeit seine geistige Gesundheit unterminiert, wie sie später auch die seines Sohnes zerstört hatten. Bei ihm allerdings langsamer, denn er war ein härterer Mann. Er begann, tote Männer aus dem Brunnen steigen zu hören, die an seine Balkontüre klopften. Nachts hörte er sie miteinander flüstern, weil er ihr totes Fleisch mit seinem Reichtum geschmückt und Gold zwischen ihren Knochen verborgen hatte! In vielen Nächten mußte er die Ratten bei ihren schaurigen Mahlzeiten im Brunnen beobachtet haben. Und als er die Ratten dann in seinem eigenen Bett sah, glaubte er, daß nun bald die Toten kommen und ihn mit sich nehmen würden.
Rampole fand seinen feuchten Mantel widerlich. Der Raum war erfüllt von Anthonys Gegenwart.
Dorothy sprach mit klarer Stimme. Sie sah jetzt nicht mehr verängstigt aus.
»Und das«, sagte sie, »ging so lange, bis - ?«
»Bis er unvorsichtig wurde«, antwortete Dr. Fell.
Der Regen, der schon fast abgeebbt war, rauschte wieder lauter. Er raschelte im Efeu vor dem Fenster und spritzte auf den Boden. Er tanzte durch das Gebäude, als wollte er etwas wegspülen.
»Oder vielleicht«, schloß der Doktor und blickte plötzlich zur Balkontür hinüber, »vielleicht wurde er auch gar nicht unvorsichtig. Vielleicht wußte ja jemand von seinen nächtlichen Ausflügen, ohne deren Grund zu kennen, und kappte einfach das Tau. Wie auch immer, der Knoten des Seils löste sich oder wurde durchgeschnitten. Es war eine stürmische Nacht mit Regen und Wind. Das lose Seil fiel mit ihm hinab. Weil das Ende über den inneren Rand des Brunnens gehangen hatte, glitt es hinunter in den Schacht; niemand kümmerte sich darum, dort unten irgend etwas zu untersuchen. Deshalb vermutete man auch kein Seil. Allerdings fiel Anthony nicht in den Brunnen.«
Rampole dachte: Ja, ein Seil, das dann gekappt worden war. Viel wahrscheinlicher als eine Schlinge, die sich einfach geöffnet hatte. Vielleicht brannte eine Lampe im Gouverneurszimmer, der Mann mit dem Messer lauerte über die Balkonbrüstung und sah einen kurzen Augenblick Anthonys Gesicht hinuntertrudeln auf die Eisenspitzen am Rand des Brunnens. In Rampoles Phantasie war die Szene so gräßlich lebendig wie auf einem Stich von Cruikshank -die weißen, weitaufgerissenen Augen, die rudernden Arme, der schattenhafte Mörder.
Ein Schrei in Wind und Regen. Dann dieses Geräusch, wie auch immer es geklungen haben mochte, und eine Lampe, die ausgeblasen wurde. Alles so tot wie die Bücher dort in den Regalen. Die Szene hätte gerade so von Ainsworth zur selben Zeit erfunden werden können...
Weit weg hörte er Dr. Fell sagen: »Nun, Miss Starberth, da haben Sie also Ihren verdammten Familienfluch. Das war es, was Sie die ganze Zeit über beunruhigt hat. Nicht sehr eindrucksvoll, oder?«
Sie erhob sich wortlos und begann, im Raum umherzugehen. Die Hände hatte sie in die Taschen geschoben, ganz wie Rampole sie am ersten Abend auf dem Bahnsteig gesehen hatte. Vor Dr. Fell innehaltend nahm sie ein gefaltetes Blatt Papier aus der Tasche und streckte es ihm hin. Das Gedicht.
»Und«, fragte sie, »was ist hiermit?«
»Ein Kryptogramm, zweifellos. Es wird uns den genauen Ort verraten... Aber verstehen Sie nicht, daß ein gewitzter Dieb dieses Blatt gar nicht nötig hatte, nicht einmal etwas von dessen Existenz hätte ahnen müssen, um zu wissen, daß im Brunnen etwas verborgen war? Er hätte bloß die Indizien benutzen müssen, die ich benutzt habe. Sie liegen offen zutage.«
Die Kerze war niedergebrannt, ein breiter Lichtkranz tanzte herum und warf einen hellen Schein. Dorothy ging zum Fenster hinüber, unter dem sich Pfützen von Regen gebildet hatten, und starrte blind in das Rankengewirr.
»Ich glaube«, sagte sie, »jetzt kapiere ich auch das mit meinem Vater. Er war - naß, völlig durchnäßt, als man ihn fand.«
»Du meinst«, versetzte Rampole, »daß er den Dieb bei der Arbeit überrascht hat?«
»Gibt es etwa eine bessere Erklärung?« brummte Dr. Fell. Er hatte erfolglose Versuche unternommen, seine Pfeife wieder zu entzünden, und legte sie jetzt resignierend auf den Tisch. »Er war auf einem Kontrollritt, wissen Sie. Dabei bemerkte er das Seil, das hinunter in den Brunnen hing. Wir können annehmen, daß der Mörder ihn nicht sah, weil Timothy ja offensichtlich in den Brunnen hinunterstieg. Also - ?« Er blickte herausfordernd um sich.
»Also ist dort unten eine Art von Kammer, eine ausgehöhlte Stelle«, nickte Rampole. »Und der Mörder bemerkte Timothy nicht, bis er unten war.«
»Hm. Na gut. Es gibt noch eine andere Schlußfolgerung, aber wie Sie wollen. Entschuldigen Sie mich, Miss Starberth, aber Ihr Vater ist nie gestürzt. Er wurde erschlagen, eiskalt und grausam, und dann für tot in die Büsche geworfen.«
Das Mädchen fuhr herum. »Herbert?« wollte sie wissen.
In tiefer Versunkenheit malte Dr. Fell mit seinem Zeigefinger wie ein Kind Muster in den Staub des Tisches. Er raunte:
»Es kann kein Anfänger gewesen sein. Die Sache ist viel zu perfekt. Es kann einfach nicht sein. Und doch, es muß so sein, es sei denn, ich werde widerlegt. Und wenn er es nicht ist, dann muß viel auf dem Spiel stehen.«
Rampole fragte leicht irritiert, wovon er eigentlich rede.
»Ich sprach von einem Besuch in London«, gab der Doktor zurück.
Mühselig hievte er sich mit beiden Stöcken auf die Beine. Wild und finster stand er da, die Augen funkelten hinter seiner Brille. Dann drohte er den Wänden mit dem Stock wie ein Lehrer. »Euer Geheimnis ist heraus«, dröhnte er, »ihr könnt niemand mehr erschrecken.«
»Bloß, daß es noch einen Mörder gibt«, meinte Rampole.
»Ja. Und dafür hat Ihr Vater gesorgt, Miss Starberth. Ihr Vater ließ, wie ich früher bereits ausführte, den Bericht in den Tresor bringen. Der Mörder glaubt jetzt, er ist in Sicherheit. Fast zwei Jahre hat er geduldig gewartet, um dieses anklagende Stück Papier in seine Hände zu bekommen. Nun, er ist trotzdem nicht in Sicherheit.«
»Sie wissen, wer es ist?«
»Kommen Sie«, sagte der Doktor barsch. »Wir müssen nach Hause. Ich brauche eine Tasse Tee oder eine Flasche Bier, vorzugsweise letzteres. Außerdem kommt meine Frau bald von Mrs. Payne zurück.«
»Hören Sie«, beharrte Rampole, »wissen Sie, wer der Mörder ist?«
Dr. Fell überlegte.
»Es regnet noch immer sehr stark«, antwortete er nach einer Weile so nachdenklich, als brüte er über einem Schachzug. »Sehen Sie, wieviel Wasser sich unter dem Fenster angesammelt hat?«
»Ja, natürlich. Aber - «
»Und sehen Sie auch«, dabei wies er auf die geschlossene Balkontüre, »daß von dort nichts hereingekommen ist?«
»Natürlich.«
»Aber wenn diese Tür nun aufstünde, dann wäre dort viel mehr Wasser als unter dem Fenster, nicht wahr?«
Rampole konnte nicht sagen, warum der Doktor sich so geheimniskrämerisch benahm. Der Gelehrte blickte versunken durch seine Brille und zupfte an seinem Schnauzbart. Grimmig beschloß Rampole, sich auf das Spiel einzulassen.
»Unzweifelhaft, Sir«, stimmte er zu.
»Warum«, rief der andere triumphierend, »haben wir dann nicht sein Licht gesehen?«
»Oh Gott!« seufzte Rampole resignierend.
»Es ist wie ein Zaubertrick. Wissen Sie eigentlich«, fragte Dr. Fell und fuchtelte mit dem Stock, »was Tennyson über Brownings >Sordello< gesagt hat?«
»Nein, Sir.«
»Er sagte, das einzig Verständliche an dem Gedicht seien die erste und die letzte Zeile - und die seien beide gelogen. Das ist der Schlüssel zu der ganzen Angelegenheit. Kommt, Kinder, der Tee wartet.«
Möglicherweise beherrschte der Schrecken immer noch dieses Haus der Folter und des Henkens. Doch Rampole spürte nichts davon, als er auf dem Rückweg mit seiner Lampe voranging.