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»Natürlich handelt es sich dabei um ein sehr altes Verfahren. Schon Plutarch und Gellius erwähnen geheime Methoden der Nachrichtenübermittlung bei den Spartanern. Doch die Kryptographie im engeren Sinn, also das Austauschen von Wörtern, Buchstaben oder Zeichen, ist semitischen Ursprungs. Eine Variante dieser einfachen Form findet sich schon in Caesars Schrift Quarta elementorum littera...«

»Sehen Sie sich mal dieses verdammte Ding hier an!« entfuhr es Sir Benjamin, der Rampoles Abschrift vom Boden aufgehoben hatte und mit der flachen Hand darauf schlug. »Sehen Sie hier, in der zweiten Strophe. Es ergibt zwar keinen Sinn: >Ist mondbesternt und macht schön bang: Der Kors' ward hier zur Welt gebracht!<. Wenn damit aber wirklich das gemeint ist, was ich vermute, dann ist das nicht sehr schmeichelhaft für Napoleon.«

Dr. Fell nahm die Pfeife aus dem Mund. »Ich wünschte, Sie hielten die Klappe«, klagte er. »Ich möchte jetzt gerne einen Vortrag halten, jawoll. Ich wollte gerade von Trithemius zu Francis Bacon kommen und dann - «

»Ich habe aber keine Lust auf einen Vortrag«, widersetzte sich der Chief Constable. »Ich will, daß Sie sich das hier mal ansehen. Ich sage ja nicht, Sie sollen es lösen. Aber hören Sie auf zu dozieren und werfen Sie bloß mal einen Blick hier drauf.«

Seufzend ging Dr. Fell zum Tisch hinüber, wo er eine weitere Lampe anzündete und das Blatt vor sich ausbreitete. Die Tabakswolken verwandelten sich in ein langsames, stetiges Paffen.

»Hmm«, meinte er. Erneutes Schweigen.

»Warten Sie«, wehrte Sir Benjamin ab, als der Doktor sprechen wollte. »Fangen Sie bloß nicht wieder an, wie ein verdammtes Lexikon zu reden. Sehen Sie irgendeinen Anhaltspunkt?«

»Ich wollte Sie gerade bitten«, antwortete der andere sanft, »mir noch ein Bier einzuschenken. Wie dem auch sei, da Sie es schon ansprechen... Die Alten waren Waisenknaben gegen unsere modernen Kryptographen; der Krieg hat das ja bewiesen. Diese Verse hier, die im späten achtzehnten oder frühen neunzehnten Jahrhundert geschrieben worden sind, dürften also nicht allzu schwierig sein. Der Rebus war damals die beliebteste Gattung in unserem Zusammenhang; um so etwas handelt es sich hier natürlich nicht. Allerdings sind sie doch ein wenig komplizierter als die einfachen Substitutions-Chiffren, die Edgar Allan Poe so geschätzt hat. Es muß eine Art Bilderrätsel sein, bloß...«

Sie hatten sich um seinen Stuhl geschart und über das Blatt gebeugt. Erneut lasen sie die Worte:

Er klassisch übern Himmel fährt; Wenn Alpha ruft nach seinem Ende, Wo Newgate-Kittchen wallbewehrt -Schifft Charon darauf Diesseits' Wende. Homer von Trojas Unglück sang -Dort scheint die Sonn' um Mitternacht, Ist mondbesternt und macht schön bang: Der Kors' ward hier zur Welt gebracht! Wo ruht dein aschzerstäubt' Gebein? Dein Fuß stößt dran, du bist erstaunt, Zur Krippe weist Kometenschein. Der Kelten blinder Sänger raunt: Wohl schwarzen Todes Boten sind. Nimm Ost-Süd-West: wer'sfindt, gewinnt!

Dr. Fells Stift arbeitete rasch und schrieb unverständliche Zeichen. Er brummte, schüttelte den Kopf und wandte sich wieder den Strophen zu. Er griff in ein drehbares Bücherregal neben sich, nahm einen schwarzgebundenen Band mit der Aufschrift »L. Fleissner, Handbuch der Kryptographie« heraus und blätterte stirnrunzelnd in dessen Index.

»Drafghk!« bellte er wie jemand, der »verdammt« sagt. »So kommt >drafghk< heraus, was aber Blödsinn ist. Ich könnte schwören, daß es überhaupt nichts mit einer Substitutions-Chiffre zu tun hat. Probeweise werde ich sowohl Englisch als auch Latein versuchen. Ich krieg' es raus. Die klassische Bildung triumphiert immer, junger Freund«, sagte er ungestüm, »Vergessen Sie das nie... Was ist los, Miss Starberth?«

Das Mädchen hatte beide Hände auf den Tisch gestützt, ihr dunkles Haar schimmerte im Licht. Als sie aufblickte, ließ sie eine unterdrücktes Lachen hören.

»Ich dachte gerade nur«, gab sie leicht verlegen zurück, »daß, wenn man die einzelnen Zeilen für sich nimmt...«

»Was?«

»Nun... Schauen Sie sich mal die zweite Strophe an. >Homer von Trojas Unglück sang<. Damit ist doch wohl die Ilias gemeint, oder? >Dort scheint die Sonn' um Mitternacht<. Das ist Norwegen. Wenn man nun jede Zeile einzeln nähme und als Definition jeweils - ich hoffe, das ist nicht allzu töricht«, zögerte sie, »und als Definition jeweils für ein Wort betrachtete...«

»Mein Gott!« sagte Rampole, »ein Kreuzworträtsel!«

»Quatsch!« rief Dr. Fell und wurde noch röter im Gesicht.

»Aber sehen Sie doch, Sir«, drängte Rampole und beugte sich aufgeregt über das Blatt. »Anthony wußte natürlich nicht, daß er in Wirklichkeit ein Kreuzworträtsel bastelte, aber im Ergebnis war es genau dasselbe. Sie sagten doch, es sei vielleicht eine Art von Rebus-«

»Wenn ich's recht bedenke«, schmollte Dr. Fell und räusperte sich, »war das Verfahren nicht unbekannt - «

»Gut, ausprobieren!« rief Sir Benjamin. »Wir wollen es versuchen. >Er klassisch übern Himmel fährt<. Ich nehme an, das soll heißen: >Wie nannte man ihn in klassischer Zeit?< - Aber wen? Wer hat eine Idee?« Dr. Fell, der vor sich hin gepafft und sich wie ein trotziges Kind benommen hatte, nahm jetzt wieder den Stift in die Hand. Knapp antwortete er:

»>Helios< natürlich, mit dem Sonnenwagen. Sehr gut, wir versuchen es. Das nächste könnte Omega sein. Alpha est et Omega, der Herr ist der Anfang und das Ende. Und das Newgate-Gefängnis steht in London. Weiter. »Schifft Charon darauf Diesseits' Wende<. Charon ist der Fährmann auf dem Flusse Styx, der in der griechischen Mythologie das Diesseits von der Unterwelt trennt. Wir hätten also - HELIOS OMEGA LONDON STYX.«

Schweigen.

»Scheint keinen Sinn zu ergeben«, murmelte Sir Benjamin skeptisch.

»Macht jedenfalls mehr Sinn als alles andere bisher«, sagte Rampole. »Wir sollten so weitermachen. Also >Ilias< und >Norwe-gen< haben wir schon. Dann: >Ist mondbesternt und macht schön bang<. Was mag das sein?«

»Die Nacht natürlich«, meinte Dr. Fell, der allmählich seine gute Laune wiedergewonnen hatte. »Die nächste Zeile meint augenscheinlich >Ajaccio<, die Geburtsstadt Napoleons. Woll'n sehen, was wir jetzt haben - HELIOS OMEGA LONDON STYX ILIAS NORWEGEN NACHT AJACCIO.«

Ein breites Grinsen legte seine zahlreichen Kinnrollen in Falten. Er zupfte an seinem Schnurrbart wie ein Pirat.

»Es ist raus«, verkündete er. »Ich hab's. Nehmen Sie nur den ersten Buchstaben von jedem Wort...«

»H O L - «, las Dorothy und sah sich mit leuchtenden Augen um.

»Das ist es. HOL SINN A- was kommt dann?«

»Wir brauchen ein U. Ja! >Wo ruht dein aschzerstäubt Gebein?<« las der Doktor. »Das nächste Wort heißt >Urne<. Weiter. Der Fuß stößt an den >Stolperstein<. Das ergibt HOL SINN AUS. Ich sagte ja, daß es nicht schwierig sein würde.«

Sir Benjamin sagte wiederholt »Donnerwetter!« und boxte sich in die Handfläche. »>Zur Krippe weist Kometenschein<: Damit muß Halley, die Hirten, Jesus gemeint sein. Die Antwort ist jedenfalls >Bethlehem<.«

»Und der blinde Sänger der Kelten«, warf Rampole ein, »hieß >Ossian<. Das fügt ein O hinzu. Also HOL SINN AUS BO- «

Dr. Fell schrieb die zwei neuen Worte und noch zwei letzte Buchstaben dazu.

»Fertig«, sagte er. »Die Boten des Schwarzen Todes sind die Ratten, sie bringen die Pest. In der letzten Zeile bleibt von den Himmelsrichtungen nur Norden übrig. Das letzte Wort ist somit BORN, ein alter Ausdruck sowohl für Quelle als auch für Brunnen.« Er warf den Stift weg. »Dieser gerissene alte Teufel! Über hundert Jahre hat er sein Geheimnis wahren können.«