Sir Benjamin ließ sich unter Verwünschungen kraftlos in einen Sessel fallen. »Und wir haben es in einer halben Stunde gelöst.«
»Lassen Sie mich daran erinnern, Sir«, brummte Dr. Fell aufgekratzt, »daß diese Geheimschrift absolut nichts enthält, was ich Ihnen nicht bereits gesagt hätte. Die Erklärung war längst gefunden. Das hier ist nur der Beweis für die Richtigkeit meiner Überlegungen. Wenn dieses Kryptogramm ohne unser Vorwissen gelöst worden wäre, dann wäre es vollständig sinnlos geblieben. Jetzt aber wissen wir dank - äh - unseres Vorwissens, was damit gemeint ist.« Mit prahlerischer Geste und leuchtenden Augen leerte er sein Glas.
»Natürlich, natürlich. Doch was meint er bloß mit >Sinn<?«
»Damit kann nichts anderes gemeint sein als sein Sinnspruch, das Motto: >All meine Habe trage ich bei mir.< Der Wählspruch war bisher schon sehr hilfreich und wird uns auch weiterhin helfen. Irgendwo da unten wird er in den Stein gehauen sein...«
Wieder legte der Chief Constable die Stirn in Falten und rieb sich seine Backe.
»Na gut. Wir wissen aber nicht, wo. Und es ist ein verdammt ungesunder Ort zum Herumstöbern.«
»Unsinn!« rief der Doktor scharf. »Natürlich wissen wir, wo er sich befindet.«
Während ihn der Chief Constable säuerlich anblickte, lehnte sich Dr. Fell wieder zurück und entzündete behaglich seine Pfeife. Mit nachdenklicher Stimme fuhr er fort:
»Wenn man - beispielsweise - ein dickes Seil über die Balkonbrüstung legte, es durch die Rillen vom Tau des alten Anthony führte und das Ende, genau wie bei Anthonys Seil, in den Brunnen hängen ließe - dann wären wir doch wohl nicht mehr sehr weit von der Stelle entfernt, oder? Der Brunnen mag zwar sehr groß sein, aber ein Seil, das man in diese Rillen legt, wird den Suchbereich auf wenige Fuß zusammenschrumpfen lassen. Und wenn dann ein kräftiger Kerl - etwa unser junger Freund hier - vom Brunnenrand aus am Seil hinunterklettert...«
»Das klingt vernünftig«, gab der Chief Constable zu. »Doch was würde es nützen? Sie haben selbst gesagt, daß der Mörder schon vor langer Zeit alles, was sich je darin befunden haben könnte, weggeschafft hat. Er hat Timothy doch ermordet, weil der ihn dabei überraschte. Und er tötete Martin, weil der dieses Geheimnis erfahren hätte, wenn er den Bericht aus dem Tresor gelesen hätte. Was hoffen Sie jetzt noch da unten zu finden?«
Dr. Fell zögerte. »Ich bin mir nicht sicher. Aber wir sollten es auf jeden Fall versuchen.«
»Ich muß schon sagen.« Sir Benjamin atmete hörbar. »Na gut. Morgen früh nehme ich mir ein paar Beamte - «
»Dann hätten wir halb Chatterham auf dem Hals«, meinte der Doktor. »Meinen Sie nicht, daß es besser wäre, wir behielten die Sache vorläufig für uns und arbeiteten nachts?«
Der Chief Constable zauderte. »Das ist verdammt riskant«, murmelte er. »Ein Mann könnte sich dabei leicht den Hals brechen. Was meinen Sie dazu, Mr. Rampole?« Rampole hielt es für eine spannende Sache, und das sagte er auch.
»Trotzdem will es mir nicht gefallen«, brummte der Chief Constable. »Aber es ist der einzige Weg, unerfreuliche Zwischenfälle zu vermeiden. Wir können es, falls der Regen nachläßt, heute nacht versuchen. Ich muß sowieso nicht vor morgen früh zurück nach Ashley Court, und ich kann im >Bruder Tuck< übernachten. Meinen Sie nicht, daß das Licht im Gefängnis, wenn wir das Seil festmachen - ich meine, wird so was nicht Aufmerksamkeit auf uns ziehen?«
»Möglich. Doch ich bin mir ziemlich sicher, daß uns niemand stören wird. Die Leute aus dem Dorf sind viel zu ängstlich.«
Dorothy hatte bereits eine ganze Weile von einem zum anderen geblickt. Nun verengten sich ihre Augen zu Schlitzen, und um ihren Mund bildeten sich ärgerliche Falten.
»Sie fragen ihn, ob er es macht«, sagte sie und nickte zu Rampole hinüber, »und ich kenne ihn schon gut genug, um zu wissen, daß er es tatsächlich tun wird. Sie können ja ganz beruhigt sein. Sie behaupten, niemand aus dem Dorf würde da sein. Na schön, aber Sie haben jemand vergessen, der mit größter Wahrscheinlichkeit da sein wird. Der Mörder.«
Rampole war zu ihr hinübergegangen und hatte ihre Hand ergriffen. Sie bemerkte es nicht, doch ihre Finger schlössen sich um die seinen. Sir Benjamin bemerkte es jedoch sehr wohl und mit einiger Verwirrung, die er aber zu verbergen suchte, indem er »Ähäm!« sagte und auf seinen Absätzen zu wippen begann. Wohlwollend blickte Dr. Fell aus seinem Sessel hoch.
»Der Mörder«, wiederholte er. »Ich weiß, meine Liebe. Ich weiß.«
Man schwieg. Niemand schien noch zu wissen, was er sagen sollte. Der Ausdruck in Sir Benjamins Augen schien anzudeuten, daß es nicht sehr Britisch wäre, jetzt noch den Rückzug anzutreten. Alles in allem war er äußerst verlegen.
»Ich gehe dann wohl mal«, meinte er nach einer Weile. »Übrigens werde ich den Friedensrichter in Chatterham ins Vertrauen ziehen müssen. Schließlich brauchen wir Seile, Haken, Hämmer und so weiter. Wenn der Regen aufhört, dann kann ich wohl um zehn heute abend wieder hier sein.«
Er zögerte.
»Aber eine Sache wüßte ich noch gerne. Sie haben eine ganze Menge von diesem Brunnen erzählt. Von ertrunkenen Männern und Geistern, von Goldbarren, Juwelen, Tafelsilber und Gott weiß, wovon noch. Gut. Aber Doktor, was suchen Sie denn nun da unten in dem Brunnen?«
»Ein Taschentuch«, sagte Dr. Fell und nahm sich noch ein Bier.
Kapitel 15
Mr. Budge hatte einen erbaulichen Abend verbracht. Drei Abende im Monat hatte er frei. Gewöhnlich richtete er es so ein, daß er zwei davon in einem Kino in Lincoln zubringen konnte; dort wurden mit erfreulicher Regelmäßigkeit Leute »um die Ecke gebracht«, und außerdem konnte er sein Gedächtnis auffrischen bezüglich solcher Ausdrücke wie »Zieh Leine!«, »Zisch ab!« und ähnlichem, die ihm in seiner Stellung als Butler im Herrenhaus einmal von Nutzen sein könnten. Den dritten freien Abend verbrachte er grundsätzlich bei seinen guten Freunden, Mr. und Mrs. Rankin, Butler und Haushälterin im Hause der Paynes in Chatterham.
Die Rankins behandelten ihn in ihren behaglichen Räumen im Untergeschoß mit einer Gastlichkeit, deren Ritual feststand. Mr. Budge erhielt den besten Sessel, einen quietschenden Schaukelstuhl, dessen Rückenlehne hoch über den Kopf des Sitzenden hinausragte. Mr. Budge bekam ein Gläschen angeboten - Portwein von oben, vom Tisch der Paynes, oder, bei feuchtem Wetter, einen heißen Grog. Die Gaslichter summten gemütlich, und stets gab es auch wieder das übliche Kindergeplapper mit der Katze. Die Schaukelstühle schwangen in unterschiedlichen Rhythmen - Mrs. Rankins' Stuhl schnell und lebhaft, der ihres Gatten etwas beschaulicher und Mr. Budges Stuhl mit einer schwerfällig rollenden Bewegung wie eine Sänfte, die einen Fürsten trug.
Den Abend verbrachten sie gewöhnlich mit Diskussionen über Chatterham und seine Bewohner. Vor allem, wenn es ab neun Uhr weniger förmlich zuging, sprachen sie über die Honoratioren des Dorfes. Kurz nach zehn machten sie dann normalerweise Schluß. Mr. Rankin empfahl Mr. Budges Aufmerksamkeit noch ein lesenswertes Buch, das sein Herr im Laufe der Woche erwähnt hatte, Mr. Budge notierte sich gewissenhaft den Titel, setzte dann seinen Hut so exakt auf, als sei es ein Helm, knöpfte den Mantel zu und spazierte heimwärts.
Der heutige Abend, überlegte er, als er über die Hauptstraße auf das Herrenhaus zuschritt, war ungewöhnlich erfrischend verlaufen. Der Himmel war aufgeklart und schimmerte wie blankgeputzt. Der Mond leuchtete hell. Ein feiner Dunstschleier hing über der Ebene, und die feuchte Luft roch nach Heu. In solchen Nächten verwandelte sich die Seele Budges in die Seele von D'ArtagnanRobinHoodFairbanksBudge, dem Draufgänger, dem Abenteurer, dem Schnurrbartzwirbler - in ganz verrückten Momenten sogar von Budge, dem großen Liebhaber. Seine Seele wurde zu einem Ballon - einem Fesselballon zwar, aber immerhin einem Ballon. Er liebte diese langen Heimwege, denn die Sterne lachten nicht über die Possen jenes anderen Budge, er konnte unbeobachtet mit einem eingebildeten Schwert in der Hand einen Ausfall gegen einen der Heuhaufen tun, ohne von so einem neunmalklugen Hausmädchen behelligt zu werden.