Doch während seine Schritte auf der harten weißen Straße widerhallten, verschob er diese luxuriösen Träume auf die letzte Meile seines Weges. Er überdachte den Abend, vor allem die enorme Neuigkeit, die er gegen Ende des Beisammenseins erfahren hatte...
Zunächst hatte es einfach den üblichen Klatsch gegeben. Er selbst hatte sich mit Anteilnahme über Mrs. Bundles Hexenschuß geäußert. Die Gegenseite hatte mit der Neuigkeit aufgewartet, daß Mr. Payne wieder einmal zu einer juristischen Besprechung nach London fahren würde. Mr. Rankin hatte dieses Thema mit den eindrucksvollsten Begriffen behandelt und geheimnisvolle Aktenmappen erwähnt, die ebenso imponierend wären wie die Perücken der Richter. Was sie an der Gilde der Rechtsgelehrten am tiefsten beeindruckt hatte, war, daß man, um deren Mitglied zu werden, so viele Bücher lesen mußte. Außerdem war Mrs. Payne wieder einmal ausgesucht schlechter Laune, doch was konnte man schon anders erwarten, bei ihrer Veranlagung.
Zudem hatte sich im Dorf das Gerücht verbreitet, der Onkel des Pfarrers käme aus Auckland zu Besuch, einer der ältesten Freunde von Sir Benjamin Arnold. Der hatte ja dem Pfarrer danach die Anstellung verschafft, das hatte er. Der Onkel und Sir Benjamin waren vor Jahren zusammen mit Cecil Rhodes in den Diamantenfeldern von Kimberley gewesen. Das gab Anlaß zu einigen Spekulationen. Man spekulierte auch ein wenig über den Mord, allerdings wirklich nur sehr wenig, da die Rankins Mr. Budges Gefühle respektierten. Budge war ihnen dankbar dafür. Persönlich hatte er die innere Gewißheit, daß Mr. Herbert den Mord begangen hatte, aber er weigerte sich, weiter darüber nachzudenken. Jedesmal, wenn das häßliche Thema plötzlich in seinen Gedanken auftauchte, drückte er es wieder zurück wie einen Springteufel in die Dose, doch er konnte es nicht immer verdrängen...
Nein, worüber er am meisten nachdachte, waren die Gerüchte über Die Affäre. Der Großbuchstabe war nur allzu berechtigt; es klang viel verruchter so, beinahe französisch. Die Affäre zwischen Miss Dorothy und dem jungen Amerikaner, der bei Dr. Fell zu Besuch war.
Zunächst war Budge schockiert gewesen. Nicht über die Affäre, sondern über den Amerikaner. Seltsam, sehr seltsam, überlegte Budge mit plötzlicher Bewegung. Wenn man hier im Mondlicht unter den unermüdlich rauschenden Bäumen entlangspazierte, erschienen alle Dinge in einem anderen Licht als oben im Herrenhaus. Möglicherweise war es Budge der Draufgänger, der über die Indiskretion ebenso leicht hinwegsah, wie er einen Schuft (»Canaille!«) mit der Spitze seines Rapiers aufspießen konnte. Das Herrenhaus war so schlafmützig und spießig wie eine Partie Whist. Hier jedoch wollte man den Tisch umstoßen und die Karten herunterfegen. Es war bloß - nun, diese verdammten Amerikaner -und Miss Dorothy!
Guter Gott! Miss Dorothy!
Er erinnerte sich seiner eigenen Worte, die ihm in jener Nacht, als Mr. Martin ermordet worden war, in den Sinn gekommen waren: Da hatte er Miss Dorothy beinahe ein eiskaltes kleines Stück genannt. Ein Gedanke beherrschte alle anderen: Was würde Mrs. Bundle dazu sagen? Im Herrenhaus hätte ihn diese Vorstellung frösteln lassen. Hier jedoch ließen die Strahlen der Filmleinwand Mr. Budges Seele glänzen wie eine Rüstung.
Er kicherte.
Gerade ging er an ein paar Heuhaufen vorüber, monströsen schwarzen Schatten vor dem Mond, und wunderte sich, daß er schon so weit gekommen war. Seine Stiefel mußten staubbedeckt sein, und sein Blut war vom Gehen in Wallung geraten. Letzten Endes schien der junge Amerikaner aber doch ein Gentleman zu sein. Sicher, in manchen Augenblicken hatte Budge ihn für den Mörder gehalten. Immerhin kam er aus Amerika, und Mr. Martin hatte ebenfalls viele Jahre in Amerika verbracht. Das legte unheilvolle Schlüsse nahe. Und für einen kurzen, köstlichen Augenblick war in ihm der Verdacht aufgestiegen, er könne möglicherweise - wie Mrs. Bundle es auszudrücken pflegte - ein Göngster sein.
Die Heuhaufen hatten sich in Burgen verwandelt, auf die die Kanonen des Herzogs von Guise zielten, und die Nacht war so sanft geworden wie der Samt, den ein Degenheld trug. Mr. Budge wurde sentimental. Er dachte an Tennyson. Er erinnerte sich im Augenblick nicht mehr, was Tennyson gesagt oder geschrieben hatte, doch er war ziemlich sicher, daß Tennyson einer Liebesaffäre zwischen Miss Dorothy und dem Yankee zugestimmt hätte. Und außerdem, Herrgottnochmal! Was für eine geheime Befriedigung wäre es ihm, wenn sie endlich einmal jemand zum Leben erweckte! -Aha! Sie hatte heute nachmittag das Herrenhaus verlassen und wollte erst nach dem Tee zurückkommen. Sie war von der Teezeit bis kurz vor Budges Ausflug nach Chatterham fortgewesen. Ha! Inzwischen war Budge ihr Beschützer. (Hat sie in dieser Zeit das Haus verlassen, fragte der Polizeibeamte mit drohend gezücktem Notizbuch. Und der unerschrockene Budge lachte dem Tod ins Gesicht und antwortete: Nein.)
Er blieb stehen. Er stand mitten auf der Straße, ein leichtes Zittern schüttelte seine Knie, und er starrte hinüber über die Wiesen zu seiner Linken.
Links vor ihm erhob sich gegen den mondhellen Himmel das Chatterham-Gefängnis. Das fahle Licht war hell genug, um sogar die einzelnen Bäume im Hexenwinkel deutlich zu sehen. Zwischen den Bäumen bewegte sich ein gelber Lichtstrahl.
Lange Zeit stand Budge reglos mitten auf der staubgrauen Straße. Er hatte eine vage Vorstellung, als ob eine Gefahr, die von dort drohe, ihm nichts anhaben könne, wenn er nur absolut ruhig blieb -wie ja auch ein wütender Hund, so sagt man, einen völlig bewegungslosen Mann nicht angreifen würde. Dann schob er sehr zaghaft seinen Bowlerhut in den Nacken und wischte sich mit einem sauberen Taschentuch die Stirn. Eine verrückte kleine Idee stahl sich in sein Gehirn und setzte sich hartnäckig fest. Dort drüben, wo dieses Irrlicht geisterte, da wartete eine Bewährungsprobe auf den Abenteurer Budge! Hier stand er mitten in der Nacht im Hochgefühl seiner Kühnheit. Später würde wieder der Butler Budge voller Scham vor seinem weißen Bett stehen und erkennen, daß er eben doch nur Budge, der Butler war...
Woraufhin Budge etwas tat, was seinem majestätisch im Herrenhaus umherschreitenden Butler-Ich völlig hirnverbrannt vorgekommen wäre. Gebückt kletterte er über den Zaun und begann, den Wiesenhang zum Hexenwinkel hinüberzuhasten. Und es sollte hier festgehalten werden, daß dabei sein Herz plötzlich zu singen begann.
Immer noch war der Boden naß und aufgeweicht vom kürzlichen Regen. Er mußte den Hang bei vollem Mondlicht überqueren, und viel zu spät fiel ihm ein, daß er sich dem Hexenwinkel ja auch auf einer weniger direkten Route hätte nähern können. Egal, nun war es geschehen. Er merkte, daß er schnaufte; kleine, scharfe Sägeblätter wurden in seiner Kehle auf- und abgezogen. Ihm war sehr heiß, er schwitzte. Und plötzlich schlüpfte mit einem Gehorsam, den der Budge des achtzehnten Jahrhunderts ohne jeden Dank, ja sogar ohne Kommentar akzeptiert haben würde, der Mond hinter eine Wolke.
Er erreichte den Rand des Hexenwinkels. Vor ihm stand eine Buche, an die er sich lehnte. Seine Kehle war wund vom Rennen, und er hatte das Gefühl, als presse ihm der Bowlerhut das Gehirn zusammen. Er schnappte nach Luft.
Das hier war Wahnsinn.
Vergiß den Abenteurer Budge! Das hier war einfach wahnsinnig. Weiter vorne war wieder der Lichtschein zu erkennen. Er sah, wie es etwa zehn Meter vor ihm, ganz nahe am Brunnen, zwischen den Baumstämmen schimmerte. Es blitzte wie ein Signal. Offenbar als Antwort darauf blinkte weiter oben ein anderer Lichtstrahl auf und verschwand wieder. Für Budge, der seinen Hals emporreckte, gab es keine Zweifeclass="underline" Das kam vom Balkon des Gouverneurszimmers. Jemand mußte dort eine Lampe aufgestellt haben. Er sah den Schatten eines sehr beleibten Mannes, der sich über die Brüstung lehnte, und der Schatten schien sich am Geländer zu schaffen zu machen.