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Ein Seil rauschte mit solcher Wucht herab, daß Budge zurücksprang. Mit einem dumpfem Laut schlug es auf dem Brunnenrand auf, pendelte kurz und rutschte dann über den Rand in die Öffnung. Fasziniert schob Budge seinen Kopf wieder vor. Das Licht neben dem Brunnen war jetzt ein stetiger Strahl. Es schien von einer kleinen Gestalt gehalten zu werden - fast wie eine Frau, dachte er. Dann tauchte ein Gesicht im Lichtstrahl auf. Das Gesicht blickte auf, und eine Hand winkte hoch hinauf zum Balkon.

Der Yankee.

Darüber bestand trotz der Entfernung kein Zweifel. Der Yankee mit dem fremden, grinsenden, unbekümmerten Gesicht. Sein Name war - Mr. Rampole. Ja. Mr. Rampole schien das Seil auszuprobieren. Er schwang mit angezogenen Beinen hin und her. Dann kletterte er ein wenig das Seil hinauf, hielt sich mit einer Hand fest und ruckte mit der anderen daran. Dann sprang er wieder herab und winkte erneut. Noch ein Licht blitzte auf, wie aus einer Blendlaterne. Mr. Rampole befestigte es an seinem Gürtel, in den er auch noch andere Gegenstände zu schieben schien - ein Beil und eine Art winziger Hacke.

Er zwängte seinen Körper zwischen zwei der langen Eisenspitzen auf dem Brunnenrand hindurch und setzte sich, die Hände am Seil, einen Augenblick auf den Innenrand. Wieder grinste er die kleine Gestalt an, die das andere Licht hielt. Dann schwang er sich vom Rand in den Brunnen hinab, das Licht wurde verschluckt. Erst als jetzt die kleine Gestalt zur Brunnenmündung hinüberrannte und der Strahl aus Rampoles Lampe einen kurzen Moment lang herauf schien, erkannte Budge, daß das Gesicht, das sich über den Brunnen beugte, das Gesicht von Miss Dorothy war...

Jetzt war der Zuschauer am Rand des Hexenwinkels nicht mehr der Abenteurer Budge, auch nicht der Butler Budge. Er war einfach eine geduckte, ungläubige Gestalt, die diese verblüffenden Vorgänge zu begreifen versuchte. Die Frösche klagten laut, und Insekten umschwirrten sein Gesicht. Geschützt zwischen den Bäumen kroch er näher. Miss Dorothys Lampe erlosch., Ihm fiel ein, daß er den Rankins im nächsten Monat eine selten aufregende Geschichte beim Portwein würde präsentieren können!

Einzelne Lichtreflexe blitzten aus dem Brunnen, als ob eine Lampe im Wasser zischte, ohne jedoch endgültig zu verlöschen. Für Bruchteile von Sekunden sah er die Umrisse spitzer Buchenblätter aufleuchten und einmal, so schien es, Miss Dorothys Gesicht. Der bleiche Mond war wieder hervorgekommen und beleuchtete gespenstisch die Mauern des Gefängnisses. Obwohl er fürchtete, ein Geräusch zu verursachen, kroch Budge kurzatmig und schwitzend noch näher heran. Der Chor der Frösche, Grillen und Gott weiß, was sonst noch alles, war jedoch so laut, daß Budge sich fragte, ob überhaupt irgendein Geräusch zu hören gewesen wäre. Außerdem war es kalt hier.

An dieser Stelle muß betont werden, daß Budge kein sehr phantasievoller Mensch war. Die Umstände erlaubten es nicht. Aber als er seinen Blick von dem tief unten im Brunnen tanzenden Lichtgeflacker abwandte und im Mondlicht eine reglose Gestalt bemerkte, wußte er gleich, daß sie nicht hierher gehörte. Tief im Innern wußte Budge, daß die Anwesenheit Miss Dorothys und des Amerikaners richtig war, so richtig wie die Kombination von Bratensoße und Roastbeef, und daß die Anwesenheit des anderen falsch war.

Es war, Budge behauptet das heute noch, ein kleingewachsener Mann. Er stand einige Meter hinter Miss Dorothy, ein krummer, unheimlicher Schatten zwischen den Mondschatten der Bäume. Und er hielt etwas in der Hand.

Aus dem Brunnen gurgelte ein Geräusch. Ununterbrochen waren dort Geräusche gewesen, doch dies jetzt war eindeutig ein Schrei oder Stöhnen oder Würgen nach Luft gewesen...

An das Folgende erinnerte sich Budge später nur sehr undeutlich. Er wußte nicht, wieviel Zeit zwischen jenem dumpfen Echo und dem Auftauchen eines Kopfes über dem Rand des Brunnens vergangen war. Er erinnerte sich nur, daß Miss Dorothy irgendwann ihre Lampe wieder angeknipst hatte. Sie leuchtete aber nicht hinunter in den Brunnen, sondern richtete das Licht auf die Öffnung mit den rostigen Eisenspitzen. Der Lichtschein aus dem Brunnen wurde jetzt stärker, als jemand emporkletterte.

Von den Gitterstäben eingerahmt erschien ein Kopf. Zunächst konnte Budge ihn nicht besonders deutlich erkennen, denn er spähte in die Dunkelheit, um die fremde Gestalt weiter hinten ausmachen zu können, diese reglose Figur, die wie ein Monster aus Draht und Haaren und Stahl wirkte. Budge konnte sie aber nicht entdecken und schaute wieder zu dem von Eisenstäben umrahmten Kopf hinüber, der sich höher und höher aus dem Brunnen schob.

Das war nicht Mr. Rampoles Gesicht. Es war das Gesicht von Mr. Herbert, das sich da über den Eisenspitzen abzeichnete. Der Unterkiefer hing herab, und Budge stand inzwischen so nahe, daß er das Einschußloch zwischen den Augen sehen konnte.

Keine drei Meter vor sich sah er diesen gräßlichen Kopf auftauchen, als ob da Mr. Herbert aus dem Brunnen kletterte. Die nassen Haare klebten ihm auf der Stirn. Die Lider waren halb geschlossen über den weißen Augäpfeln. Die Farbe des Einschußloches war Blau. Budge schwankte, eins seiner Knie knickte seitwärts, und er glaubte, sich übergeben zu müssen.

Der Kopf bewegte sich. Er drehte sich von ihm weg, und eine Hand erschien auf dem Brunnenrand. Mr. Herbert war tot. Aber er schien tatsächlich aus dem Brunnen zu klettern.

Miss Dorothy kreischte auf. Doch bevor ihre Lampe erlosch, sah Budge etwas anderes, das seinen Schrecken wie einen zu fest geschnallten Gürtel löste und ihn vor dem Erbrechen bewahrte. Er sah, unter Mr. Herberts Schulter gezwängt, den Kopf des jungen Amerikaners; und er erkannte auch, daß die Hand auf dem Brunnenmassiv die des Yankees war, der eine steife Leiche aus der Tiefe mit emporbrachte.

Das silbrigblaue Mondlicht verwandelte die Szene in eine japanische Zeichnung. Alles war wie in einer Pantomime. Budge dachte nicht mehr an die fremde Gestalt, die er hinter dem Brunnen durch die Eisenstäben hatte spähen sehen. Er wußte nicht, ob dieser Mann überhaupt den Kopf des jungen Amerikaners unter Mr. Herberts Leiche gesehen hatte. Aber plötzlich hörte er ein Taumeln und Stolpern im Gebüsch, ein wildes Hasten wie von einer Fledermaus, die in verzweifelter Suche nach einem Ausweg gegen die Wände eines Raumes flatterte. Jemand rannte mit unartikulierten Schreien den Hexenwinkel hinunter.

Das feine Dämmerlicht der Pantomime zerriß. Weit oben, auf dem Balkon des Gouverneurszimmers, strahlte ein helles Licht auf. Es schnitt in die Dunkelheit zwischen den Bäumen, dann dröhnte eine Stimme vom Balkon:

»Da läuft er. Schnappt ihn euch!«

Das Licht wirbelte herum und malte grüne und schwarze Flecken zwischen die Bäume. Äste knackten, Füße patschten über sumpfigen Boden. Budges Denken war in diesen Sekunden so elementar einfach wie das eines Tieres. Der einzige deutliche Gedanke, der sein Gehirn erreichte, war, daß dort vorne der Schuldige durchs Gebüsch davonrannte. Verschwommen nur nahm er noch wahr, daß verschiedene Lampen dem Fliehenden ihren Strahl hinterherschickten. Plötzlich hoben sich ein Kopf und Schultern gegen das Mondlicht ab. Dann sah Budge, daß der Laufende einen schlüpfrigen Hang hinunterrutschte und geradewegs auf ihn zurannte.

Budge - fettleibig und schon über fünfzig - spürte, wie das Fleisch seines umfangreichen Körpers zitterte. Weder war er jetzt Budge der Draufgänger, noch Budge der Butler, sondern nur ein entnervter Mann, der sich an einen Baumstamm lehnte. Jetzt, da das Mondlicht herabfiel wie glänzende Regentropfen, sah er die Hand des anderen: Sie steckte in einem großen Gärtnerhandschuh und hielt den Zeigefinger am Abzugsbügel einer langläufigen Pistole.