Der Doktor gab ihm noch einen ordentlichen Schluck Kirschschnaps, dann stapften sie mit schweren Beinen zurück zum Hexenwinkel. Herbert Starberths Leiche lag neben dem Brunnen, wie Rampole sie abgelegt hatte. Während sie den Toten im Licht von Dr. Fells Lampe betrachteten, wischte Rampole angewidert immer wieder seine Hände an der Hose ab. Der Kopf der kleinen, zusammengekrümmten Leiche war zur Seite gedreht und schien irgend etwas da unten im Gras anzustarren. Kälte und Feuchtigkeit in der unterirdischen Nische hatten wie ein Eiskeller gewirkt. Obwohl bereits eine Woche vergangen sein mußte, seit ihm die Kugel ins Gehirn gedrungen war, gab es keinerlei Anzeichen von Verwesung.
Rampole, in dessen Kopf es dumpf dröhnte, wies hinunter.
»Mord?« fragte er.
»Zweifellos. Keine Waffe und - Sie wissen schon.«
Der Amerikaner sagte etwas, das ihm sogar noch in seinem benommenen Zustand idiotisch vorkam. »Das muß ein Ende haben!« rief er verzweifelt und ballte die Fäuste. Doch es gab nichts Passenderes. Damit war alles gesagt. Er wiederholte sich: »Das muß ein Ende haben, sage ich! Jetzt auch noch dieser arme Teufel von Butler... Oder meinen Sie, er könnte etwas mit der Sache zu tun haben? Daran habe ich noch gar nicht gedacht.«
Dr. Fell schüttelte den Kopf.
»Nein. Nein, hinter dieser Sache steckt nur ein einziger Mann. Und ich weiß auch, wer es ist.«
Rampole lehnte sich an die Mauerkrone des Brunnens und suchte in seinen Taschen nach Zigaretten. Mit verdreckten Händen zündete er sich eine an. Sogar die Zigarette schmeckte nach der fauligen Tiefe da unten. Er sagte:
»Dann ist es bald vorbei?«
»Es ist bald vorbei«, sagte Dr. Fell. »Morgen wird es soweit sein. Wegen eines ganz bestimmten Telegramms.« Er hatte das Licht von der Leiche weggerichtet und schwieg nachdenklich. »Ich habe lange gebraucht, um es rauszukriegen«, fuhr er plötzlich fort. »Es gibt nur einen Mann, nur einen einzigen, der diese Morde begangen haben kann. Er hat bereits drei Männer getötet und heute nacht möglicherweise einen vierten... Morgen nachmittag wird hier ein Zug aus London halten. Wir werden ihn erwarten. Am Bahnhof werden wir dem Mörder endlich das Handwerk legen.«
»Dann - dann wohnt der Mörder gar nicht hier?«
Dr. Fell hob seinen Kopf. »Machen Sie sich darüber keine Gedanken, junger Freund. Gehen Sie hinunter zum Yew Cottage, nehmen Sie ein Bad und wechseln Sie Ihre Kleidung. Sie haben's nötig. Ich kann hier alleine Wache halten.«
Über dem Hexenwinkel hatte eine Eule zu rufen begonnen. Rampole schob sich auf dem Pfad, über den sie Budge weggetragen hatten, durchs Gebüsch. Nur einmal blickte er sich um. Dr. Fell hatte seine Lampe ausgeknipst und rührte sich nicht, eine massige schwarze Silhouette mit Löwenmähne vor dem blausilbernen Mondlicht, die hinunter in den Brunnen starrte.
Budge erinnerte sich nur an Träume und Schmerzen. Er wußte, daß er irgendwo auf einem Bett lag, man hatte dicke Kissen unter seinen Kopf geschoben. Einmal glaubte er, einen weißen Spitzenvorhang vor einem Fenster wehen zu sehen. Eine Lampe spiegelte sich in der Scheibe, und jemand saß neben ihm und wachte. Er war sich aber nicht sicher. Immer wieder versank er in Schlaf, ohne sich rühren zu können. Geräusche zitterten nach wie Gongschläge. Jemand legte eine kratzige Decke um seinen Nacken, dabei war ihm doch schon viel zu heiß. Die Berührung der Hände erschreckte ihn, wieder versuchte er erfolglos, seine Arme zu heben. Die Gongschläge und das Schwingen des eingebildeten Zimmers lösten sich in einen stechenden Schmerz auf, der seinen ganzen Körper überflutete. Es roch nach Medizin: Er war ein Junge auf einem Rugbyfeld, mitten im Getöse der Zurufe. Endlos zog er Uhren auf und schenkte Portwein aus einer Karaffe ein. Dann sprang ihn aus seinem Rahmen in der Galerie des Herrenhauses das Porträt des alten Anthony an. Der alte Anthony trug einen weißen Gärtnerhandschuh...
Noch während er zurückwich, merkte er, daß es nicht der alle Anthony war. Wer war es? Jemand, den er auf der Filmleinwand gesehen hatte im Zusammenhang mit Kampf und Pistolenschüssen. Eine Geisterflasche wurde geöffnet, flüchtig strömten Gesichter an ihm vorüber. Doch das gesuchte war nicht darunter; nein, jenes Gesicht kannte er seit langer Zeit! Ein vertrautes Gesicht.
Jetzt beugte es sich über sein Bett - über ihn!
Sein Schrei war nur ein Krächzen.
Unmöglich, daß es hier sein konnte. Er war unverletzt, und dies war nur ein Trugbild, das nach Jodoform roch. Das Leinen des Kopfkissens an seiner Wange fühlte sich kühl und ziemlich rauh an. Eine Uhr schlug. Irgend etwas wurde geschüttelt, ein dünnes Glas im Lampenlicht, dann Schritte auf Zehenspitzen. Weit weg hörte er eine Stimme sagen:
»Er wird durchkommen.«
Budge schlief. Es war, als habe sein Unterbewußtsein nur auf diese Worte gewartet, damit endlich der Schlaf aufsteigen und ihn fest in ein dunkles, weiches Wollknäuel einwickeln konnte.
Als er nach langer Zeit erwachte, wußte er nicht, wie schwach er noch war. Auch die Wirkung des Morphiums hatte noch nicht ganz nachgelassen. Doch er merkte, daß eine tiefstehende Sonne ihre Strahlen durchs Fenster schickte. Verwirrt und ein wenig erschreckt versuchte er, sich zu bewegen. Plötzlich wußte er mit furchtbarer Sicherheit, daß er bis in den Nachmittag geschlafen hatte - was im Herrenhaus einfach undenkbar war... Dann sah er, daß sich Sir Benjamin Arnold mit lächelndem Gesicht über sein Bett beugte. Hinter ihm stand eine Person, die er nicht sogleich erkannte, ein junger Mann.
»Geht's besser?« fragte Sir Benjamin.
Budge versuchte zu sprechen, konnte aber nur krächzen. Er schämte sich. Ein Stück Erinnerung purzelte in sein Bewußtsein wie ein Seil...
Ja. Jetzt wußte er es wieder. Es kam mit so starken Farben, daß er die Augen schließen mußte. Der junge Yankee, die weißen Handschuhe, die Pistole. Was hatte er getan? - Es überfiel ihn, daß er ein Feigling gewesen war, wie er es schon immer gewußt hatte; dieser Gedanke schmeckte wie bitterste Medizin.
»Versuchen Sie nicht zu sprechen«, sagte Sir Benjamin. »Sie sind bei Dr. Markley. Er sagt, Sie seien nicht transportfähig.
Liegen Sie also still. Sie haben eine scheußliche Schußwunde, aber Sie werden durchkommen. Wir machen uns jetzt wieder aus dem Staub.« Sir Benjamin schien verlegen zu sein. Er fingerte an dem Metallpfosten am Fußende des Bettes herum. »Was Sie da getan haben, Budge«, fügte er dann hinzu, »nun, ich muß schon sagen, das war verdammt anständig von Ihnen, wissen Sie.«
Budge befeuchtete seine Lippen und schaffte es endlich zu sprechen.
»Ja, Sir«, sagte er. »Danke, Sir.«
Seine halbgeschlossenen Augen weiteten sich erstaunt und leicht verärgert, als er sah, daß der junge Amerikaner beinahe gelacht hätte.
»Sollte keine Beleidigung sein, Budge«, erklärte Rampole hastig.
»Ich mußte nur gerade daran denken, daß Sie ihm die Kanone weggeschlagen haben, als wären Sie ein Bulle in Chikago. Und jetzt bedanken Sie sich, als habe Ihnen jemand ein Bier ausgegeben... Sie haben ihn wohl nicht erkannt?«
Krampfhaftes Nachdenken. Ein Gesicht im Profil, verwaschen wie eine Zeichnung im Sand. Budge wurde schwindelig, seine Brust schmerzte. Das Gesicht löste sich auf.
»Ja, Sir«, sagte er mit Anstrengung. »Ich werde mich noch erinnern, bald. Jetzt kann ich nicht...«
»Natürlich«, unterbrach ihn Rampole. Er sah eine weiß gekleidete Gestalt, die ihnen von der Tür her Zeichen gab. »Alles Gute, Budge. Sie haben sehr viel Mut bewiesen.«
Als die anderen lächelten, fühlte Budge, wie ihnen auch auf seinem Gesicht ein Lächeln antwortete wie ein nervöses Zucken. Wieder wurde er schläfrig, und sein Kopf sang, doch diesmal dämmerte er auf angenehme Weise weg. Er war nicht sicher, was geschehen war, doch zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich von wärmster Zufriedenheit eingelullt. Was für eine Geschichte! Wenn nur die Hausmädchen nicht immer die Fenster offenstehen ließen...