Budge schloß die Augen.
»Danke, Sir«, sagte er. »Bitte sagen Sie Miss Dorothy, daß ich morgen wieder zurück im Herrenhaus sein werde.«
Rampole zog die Schlafzimmertür hinter sich zu und wandte sich im Dämmerlicht des Flurs nach Sir Benjamin um. Er sah den weißen Kittel einer Krankenschwester vor ihnen die Treppe hinunterschweben.
»Er hat gesehen, wer es war«, sagte der Chief Constable grimmig. »Und er wird sich erinnern. Was, zum Teufel, aber hat er da gemacht?«
»Reine Neugier, denke ich. Was jetzt?«
Sir Benjamin klappte den Deckel seiner großen goldenen Uhr auf, warf einen nervösen Blick darauf und klappte sie wieder zu.
»Jetzt kommt Dr. Fells Show. Ich will verflucht sein, wenn ich die geringste Ahnung habe.« Seine Stimme wurde nörgelnd. »Er hat alles vollständig über meinen Kopf hinweg gemacht - über meinen Kopf! Er scheint auf recht gutem Fuß mit Sir William Rossiter zu stehen, dem Oberkommissar beim Yard. Überhaupt scheint er in England jeden bestens zu kennen. Er hat alle Fäden in der Hand... Alles, was ich weiß, ist, daß wir den Zug um 17.04 aus London erwarten und uns jemanden schnappen, der da aussteigt. Na gut, ich hoffe nur, alles ist bereit. Kommen Sie.«
Dr. Markley war noch bei seinen nachmittäglichen Hausbesuchen, und sie hielten sich nicht länger auf. Als sie in die Hauptstraße einbogen, war Rampole noch aufgeregter als der Chief Constable. Weder gestern abend noch heute morgen hatte er Dr. Fell weitere Einzelheiten entlocken können.
»Und außerdem«, nörgelte der Chief Constable immer noch im gleichen Ton, »werde ich nicht nach Southampton fahren und den Onkel des Pfarrers abholen. Auch wenn er ein alter Freund von mir ist - der Pfarrer fährt selbst. Ich habe am Donnerstag in Manchester zu tun und werde mindestens eine Woche lang weg sein. Verdammt! Irgendwas kommt aber auch immer dazwischen. Payne kann ich auch nicht finden. Er hat einige Papiere, die ich mit nach Manchester nehmen muß. Verflixt und zugenäht! Hier habe ich meine ganze Zeit mit diesem verdammten Fall verplempert, den ich eigentlich leicht den zuständigen Leuten hätte überlassen können, und jetzt nimmt mir Dr. Fell auch noch die ganze Sache aus der Hand.«
Er klang reichlich verzweifelt, und Rampole begriff, daß er einfach redete, was ihm in den Sinn kam, um ja nicht nachdenken zu müssen. Der Amerikaner konnte ihm nur beipflichten.
Sir Benjamins grauer Daimler parkte im Schatten der Ulmen am Straßenrand. Es war gerade Teezeit, nur wenige Leute waren unterwegs. Rampole fragte sich, ob die Neuigkeit vom Tod Herberts wohl bereits nach Chatterham durchgesickert war. Die Leiche hatten sie letzte Nacht ins Herrenhaus geschafft und die Bediensteten mit furchtbaren Drohungen davor gewarnt, irgend etwas davon verlauten zu lassen, bevor man es ihnen erlaubte. Doch das war natürlich keine Garantie. Die letzte Nacht hatte Dorothy, dem Zusammenbruch nahe, bei Mrs. Fell verbracht. Fast bis zum Tagesanbruch hatte er sie im Nebenraum leise reden hören. Erschöpft, und doch unfähig zu schlafen, hatte er am Fenster gesessen, unzählige Zigaretten geraucht und mit schmerzenden Lidern hinaus in den heraufdämmernden Tag gestarrt.
Der Daimler glitt jetzt durch Chatterham, der kühlende Hauch des Fahrtwindes strich über sein Gesicht. Die glühenden Streifen am Himmel waren verblaßt. Weiß war zu sehen und Violett, rauchige Schatten, die aus der Ebene heraufkrochen. Ein paar dunkle Wolken wie gemächliche Schafe. Er erinnerte sich an den ersten Abend, als er mit Dorothy Starberth nach Chatterham spaziert war, an diese geheimnisvolle Stunde unter dem golden verdunkelten Himmel, an die fernklingenden Glocken. Der Wind war durch den noch grünen Weizen gegangen und der Geruch des Weißdorn mit zunehmender Dämmerung immer stärker geworden. Er erinnerte sich und konnte nicht glauben, daß seitdem erst zehn Tage vergangen sein sollten.
>Morgen kommt ein Nachmittagszug aus London<, hörte er Dr. Fell im Hexenwinkel sagen, >den werden wir erwarten.<
Die Worte hatten etwas Endgültiges...
Sir Benjamin sagte nichts. Der Daimler brauste durch die Abendluft. Dorothy in New York. Dorothy als seine Frau. Du lieber Gott - das klang wunderbar! Jedesmal, wenn er sich das vorstellte, mußte er daran denken, daß er letztes Jahr noch im Seminar gesessen und geglaubt hatte, wenn er in Wirtschaftswissenschaften durchfiele (ein Fach, das er, wie alle intelligenten Menschen, verabscheute), dann ginge die Welt unter. Wenn er jedoch eine Frau besaß, würde er plötzlich ein ehrbarer Bürger sein, mit Telefonanschluß, Cocktailshaker und allem drum und dran. Seine Mutter bekäme vermutlich hysterische Anfälle, und sein Vater, hoch oben in seinem Anwaltsbüro im 24. Stockwerk an der 42. Straße West, zöge wohl nur träge die Augenbrauen hoch und sagte: »Na gut, wieviel brauchst du?«
Mit quietschenden Reifen hielt der Daimler am Straßenrand. Die bürgerliche Respektabilität mußte noch etwas warten. Zunächst war ein Mörder zu fangen.
Auf dem schattigen Weg, der zum Yew Cottage hinaufführte, wurden sie von etlichen Gestalten erwartet. Dr. Fells Stimme dröhnte herüber:
»Wie geht's ihm? Besser? - Dachte ich mir. Also, wir sind bereit.« Er zeigte mit einem Stock in die Runde. »Jeder, der in der Nacht, als Martin ermordet wurde, auf der Szene war, jeder, der zur Aufklärung beitragen kann, wird erleben, wie das Wild zur Strecke gebracht wird. Miss Starberth wollte erst nicht kommen, der Pfarrer auch nicht. Trotzdem sind nun beide hier. Und ich denke, auf dem Bahnhof werden noch einige andere auf uns warten.« Ungeduldig fügte er hinzu: »Nun, steigen Sie ein, steigen Sie ein!«
Am Wegrand tauchte die massige Gestalt des Pfarrers auf. Er stolperte beinahe, als er Dorothy in den Wagen half. »Natürlich komme ich gerne mit«, meinte er, »doch ich verstehe nicht, was Sie damit meinten, als Sie sagten Sie brauchen mich - «
Der Wagen verließ jetzt den Schatten des Heckenweges. Dr. Fell streckte seinen Stock in den Wind und sagte:
»Das genau ist der Punkt. Genau das. Ich möchte, daß Sie jemanden identifizieren. Es gibt etwas, was Sie uns sagen können, und ich bezweifle, ob Ihnen das selbst bewußt ist. Wenn Sie nicht alle genauestens meinen Anweisungen folgen, dann werden wir es niemals erfahren. Haben Sie verstanden?«
Er blickte alle scharf an. Sir Benjamin jagte den Motor hoch und blickte mit starrem Gesicht geradeaus. Er meinte nur kühl, sie befänden sich ja nun auf dem Weg. Auf dem Rücksitz versuchte der Pfarrer, seinem breiten Gesicht einen freundlichen Ausdruck zu geben. Dorothy hatte ihre Hände im Schoß gefaltet und blickte starr vor sich hin.
Rampole war seit seiner Ankunft vor zehn Tagen, Äonen schienen seitdem vergangen, nicht mehr am Bahnhof gewesen. Der Daimler stob mit aufheulendem Signalhorn durch die Kurven. Das Gefängnis blieb zurück, die Wirklichkeit kam näher. Dort drüben schob sich der kleine ziegelsteingemauerte Bahnhof aus dem wogenden Getreide, die Schienen schimmerten im stumpfen, gelblich faden Sonnenuntergang. Die Lampen auf dem Bahnsteig waren noch nicht angezündet, nur am Fahrkartenschalter glomm ein grünliches Licht hinter der Scheibe. Hunde bellten, genau wie in der ersten Nacht. Als Sir Benjamin den Wagen anhielt, hörten sie von ferne das schwache Pfeifen den Zuges.
Rampole erschrak. Dr. Fell wuchtete sich, auf die Stöcke gestützt, aus dem Wagen. Er trug seinen Faltenumhang und den Schlapphut, was ihm das Aussehen eines wohlbeleibten Banditen gab. Der Wind spielte mit dem schwarzen Band seiner Augengläser.
»Hören Sie«, sagte er, »bleiben Sie bitte alle hier bei mir. Instruktionen habe ich nur für Sie.« Dabei blickte er Sir Benjamin scharf an. »Ich möchte Sie warnen. Für Sie wird es eine Versuchung sein. Aber was auch immer Sie sehen oder hören werden, sagen Sie um Gottes willen nichts! Haben Sie verstanden?« Er blickte jetzt sehr böse.