»Der da will Tom Saunders sein? Der verdammte Lügner. Er - Ich bringe ihn um. Ich - «
Ohne Hast schob der Inspektor ihn von der Autotür weg. Alle umringten jetzt den Pfarrer. Mit seiner Tonsur und dem gelben Haarflaum sah er aus wie ein ehemaliger Heiliger, dem seine Gloriole abhanden gekommen ist. Er versuchte immer wieder zu lächeln. Sie eskortierten ihn ins Haus, wo Dr. Fell im Arbeitszimmer die Lampen anzündete. Sir Benjamin drückte den Pfarrer in einen Sessel.
»Also dann - «, begann er.
»Inspektor«, meinte Dr. Fell und wies mit der Lampe auf Saunders. »Durchsuchen Sie ihn besser. Ich glaube, er trägt einen Geldgürtel.«
»Nehmen Sie Ihre Pfoten weg!« giftete Saunders. Seine Stimme war schrill geworden. »Sie können überhaupt nichts beweisen. Bleiben Sie mir bloß vom Leib - !«
Seine Augen waren weit aufgerissen. Dr. Fell stellte die Lampe so neben ihn, daß sie sein verschwitztes Gesicht beleuchtete.
»Macht auch nichts«, sagte der Doktor ungerührt. »Wir können ihn ja nicht gut durchsuchen, Inspektor. Saunders, wollen Sie etwas aussagen?«
»Nein. Sie haben keinerlei Beweise.«
Dr. Fell zog die Schublade seines Schreibtisches auf, als suche er nach einem Blatt Papier, um eine Aussage niederschreiben zu können. Rampoles Blick folgte der Handbewegung. Die anderen sahen nichts, denn sie blickten Saunders an; doch der Blick des Pfarrers folgte gierig jeder Geste des Doktors.
In der Schublade lag tatsächlich Papier. Aber dort lag auch der altertümliche Derringer-Revolver des Doktors. Die Trommel war herausgeklappt, und die Patronenkammern waren gut sichtbar. Als das Licht darauffiel, sah Rampole, daß nur eine Kugel darin steckte. Dann wurde die Schublade wieder zugeschoben.
Der Tod hatte jetzt den Raum betreten.
»Nehmen Sie Platz, Gentlemen«, drängte Dr. Fell. Saunders hatte seine ausdrucklosen Augen noch immer auf die Schublade gerichtet. Der Doktor blickte hinüber zu Robert Saunders, der mit benommenem Gesichtsausdruck und geballten Fäusten herumstand. »Setzen Sie sich, Gentlemen. Ich muß Ihnen erzählen, wie er die Morde begangen hat, da er selbst es ja ablehnt. Es ist allerdings keine sehr angenehme Geschichte. Falls Sie, Miss Starberth, sich gerne zurückziehen möchten...?«
»Bitte geh«, sagte Rampole leise. »Ich begleite dich.«
»Nein!« rief sie, und er spürte, daß sie gegen ihre Hysterie ankämpfte. »Ich konnte es bis jetzt ertragen, ich werde nicht gehen. Du kannst mich nicht dazu zwingen. Wenn er es getan hat, dann will ich es auch wissen... «
Der Pfarrer hatte sich etwas erholt, doch seine Stimme war heiser.
»Aber ich bitte Sie, Miss Starberth«, tönte er, »Sie haben ein Recht auf die Geschichte dieses Verrückten. Er wird Ihnen nicht erklären können - er nicht, und auch sonst niemand -, wie ich mit ihm in diesem Haus hier sitzen und zu gleicher Zeit Ihren Bruder vom Balkon des Gouverneurszimmers stoßen konnte.«
Dr. Fell wurde laut und scharf. »Ich habe nicht gesagt. Sie hätten ihn vom Balkon gestoßen. Er wurde ja gar nicht vom Balkon gestoßen.«
Stille.
Dr. Fell lehnte am Kaminsims, einen Arm darauf gestützt, die Augen halb geschlossen. Nachdenklich fuhr er fort:
»Dafür gibt es sogar zahlreiche Gründe. Als Sie ihn fanden, lag er auf der rechten Seite und seine rechte Hüfte war gebrochen. Doch seine Uhr im Uhrentäschchen seiner Hose war nicht nur nicht zerbrochen, sondern sie ging sogar noch einwandfrei. Bei einem Sturz aus fünfzehn Meter Höhe, wissen Sie, da ist das nicht möglich. Wir werden gleich noch auf diese Uhr zurückkommen.
Alsdann: In der Mordnacht regnete es heftig. Es regnete, um genau zu sein, von dreiundzwanzig Uhr abends bis exakt ein Uhr morgens. Am nächsten Tag, als wir hinauf zum Gouverneurszimmer gingen, sahen wir, daß die Balkontür offen stand. Erinnern Sie sich? Angenommen, Martin Starberth wurde zehn Minuten vor Mitternacht ermordet. Ebenfalls angenommen, die Tür hat zu diesem Zeitpunkt offengestanden und blieb auch auf. Dann müssen wir doch genauso annehmen, daß eine ganze Stunde lang heftigster Regen zu dieser Tür hineingetrieben wurde. Denn mit Sicherheit schlug der Regen ja gegen das Fenster - was eine weitaus kleinere Öffnung ist, noch dazu mit Efeu verhangen. Am nächsten Tag fanden sich breite Regenpfützen unter dem Fenster. Doch nicht ein einziger Regentropfen war zur Tür hereingekommen. Der Boden davor war trocken, schmutzig, sogar staubig.
Mit anderen Worten, Gentlemen«, sagte Dr. Fell unbewegt, »die Tür ist nicht vor ein Uhr geöffnet worden, als es aufgehört hatte zu regnen. Sie ist auch nicht vom Wind aufgeweht worden, denn diese Tür ist so schwer, daß man sie nur mit Mühe aufzerren kann. Irgend jemand hat sie später, mitten in der Nacht, geöffnet, um den Schauplatz für die spätere Untersuchung zu präparieren.«
Wieder Stille. Stocksteif saß der Pfarrer da. Im Lichtschein der Lampe sah man auf seiner Wange einen zuckenden Nerv.
»Martin Starberth war ein sehr starker Raucher«, fuhr Dr. Fell fort. »Er hatte Angst, war nervös und hatte bereits den ganzen Tag über geraucht. Bei einer solchen Nachtwache, wie derjenigen, der er sich zu unterziehen hatte, ist es wohl nicht zu weit hergeholt, wenn man annimmt, daß er beim Warten sogar noch heftiger geraucht hat... Bei seiner Leiche wurden Streichhölzer und eine volle Zigarettenschachtel gefunden, aber auf dem Boden des Gouverneurszimmers lag nicht ein einziger Zigarettenstummel.«
Der Doktor sprach ohne Hast. Als sei ihm während seiner Schilderung eine Idee gekommen, zog er seine Pfeife aus der Tasche.
»Es ist allerdings nicht zu bezweifeln, daß jemand im Gouverneurszimmer war. Doch genau an dieser Stelle schlug der Plan des Mörders fehl. Denn wäre alles nach Fahrplan gelaufen, dann hätte keine Anlaß dazu bestanden, beim Verlöschen des Lichtes wie wild über die Wiese zu rennen. Wir hätten hier unten einfach abgewartet und Martins Leiche erst nach einer ganzen Weile gefunden, wenn er nicht zurückgekehrt wäre. Denn beachten Sie das bitte, wie Mr. Rampole das schon vor Ihnen getan hat - das Licht ging genau zehn Minuten zu früh aus.
Nun hat aber der Mörder, als er Martins Hüfte zerschmetterte, um einen Sturz vorzutäuschen, die Uhr glücklicherweise nicht mit zerstört. Sie ging noch und zeigte auch die richtige Zeit an. Lassen Sie uns - um einer Hypothese Willen - einmal annehmen, daß es wirklich Martin war, der im Gouverneurszimmer gewartet hat. Wenn seine Nachtwache vorübergewesen wäre, hätte er seine Lampe ausgemacht und wäre nach Hause gegangen. Er hätte genau gewußt, daß um zehn vor zwölf die geforderte Stunde noch nicht um war. Wenn aber nun an seiner Stelle jemand anders dort oben gewacht hätte und die Uhr dieses Jemand zufällig zehn Minuten vorgegangen wäre...?«
Sir Benjamin erhob sich wie ein umhertappender Blinder aus seinem Sessel. »Herbert - «, sagte er.
»Wir wissen doch, daß Herberts Uhr genau zehn Minuten vorging«, sagte der Doktor. »Er befahl dem Hausmädchen, die Standuhr vorzustellen. Doch sie entdeckte, daß das falsch war, und ließ die anderen Uhren, wie sie waren. Während Herbert also die Nachtwache für seinen Vetter hielt, der zu ängstlich dazu war, lag sein Vetter bereits mit gebrochenem Genick im Hexenwinkel.«
»Aber ich verstehe immer noch nicht, wie - « Verblüfft hielt Sir Benjamin inne.
Im Flur klingelte so überraschend das Telefon, daß alle erschrocken zusammenfuhren. »Am besten gehen Sie ran, Inspektor«, bot Dr. Fell an. »Das sind vermutlich Ihre Leute, die aus der Pfarrei anrufen.«
Saunders hatte sich erhoben. Seine fleischigen Kinnbacken sahen aus wie die eines kranken Hundes. »Einfach albern!« begann er mit so quietschender Stimme, als wollte er seinen gewöhnlichen Tonfall parodieren. Dann taumelte er gegen die Sesselkante und setzte sich wieder.
Sie hörten Inspektor Jennings im Flur sprechen. Nach kurzer Zeit kam er mit versteinertem Gesicht ins Arbeitszimmer zurück.