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Noch eins. Die eiserne Kassette mit den Dokumenten aus dein Tresor habe ich später in den Brunnen geworfen. Das tat ich, weil ich der teuflischen Schlauheit von Timothy, den ich getötet hatte, immer noch mißtraute. (Nein, ich fürchtete sie.) Ich befürchtete, ein zweites Dokument könne irgendwo, vielleicht in einem Geheimfach, verborgen sein. Ich wollte ganz sichergehen.

Es amüsiert mich, daran zu denken, wie ich letzte Nacht beinahe gefangen worden wäre. Diese Konferenzen bei Dr. Fell hatten mich mißtrauisch gemacht und deshalb hielt ich, gut bewaffnet, Wache. Jemand versuchte, mich aufzuhalten, und ich feuerte. Ich war sehr erleichert, als ich heute morgen erfuhr, daß es sich nur um den Butler Budge handelte. Weiter oben in diesem Bericht habe ich festgestellt, daß ich offen und ehrlich sein würde; diese Erklärung schränke ich hiermit ein. Denn über einen Punkt kann ich einfach nicht offen reden, selbst nicht im Bewußtsein, daß ich mir in den nächsten Minuten einen Revolver an die Schläfe halten und den Abzug betätigen werde. Manchmal nämlich erscheinen mir nachts Gesichter. Letzte Nacht glaubte ich wieder, eines zu sehen, und einen Augenblick lang gingen mir die Nerven durch. Doch ich will das hier nicht weiter ausbreiten. Solche Vorkommnisse beeinträchtigen nur die schöne Logik meiner Pläne. Ich bringe es nicht über mich, an dieser Stelle mehr dazu zu sagen.

Und nun, meine Herren, die Sie dieses hier lesen werden, bin ich fast am Ende. Die Geschäfte mit meinem Freund, dem Diamantenhändler, wurden im Laufe der Jahre zu meiner vollsten Zufriedenheit abgewickelt. Wir trafen uns nicht allzu häufig, um keinen Verdacht aufkeimen zu lassen. Ich war also vorbereitet. Als dann aber - Höhepunkt der bösartigen Schicksalsschläge - ein Brief meines »Onkels« eintraf, der erstmals seit zehn Jahren wieder nach England kommen wollte, da konnte ich das nur mit stiller Resignation akzeptieren. Kurz: Ich war es satt. Ich hatte schon zu lange gekämpft. Ich wollte nur noch weg von Chatterham. Deshalb erzählte ich die Neuigkeit von der Ankunft meines Onkels mit allen Einzelheiten überall offen herum. Als Vorwand drängte ich Sir Benjamin Arnold, ihn doch abzuholen - in dem klaren Bewußtsein, daß dieser das zurückweisen und darauf bestehen würde, daß ich selbst statt seiner führe. Dann wäre ich verschwunden. Mehr als zwei Jahre hatte ich über dem Schicksal und den böswilligen Streichen, die es mir gespielt hatte, gebrütet; ein ruhiges, ungestörtes Leben ohne alle Gefahren war nun nicht mehr das wichtigste. Dr. Fell hat mir freundlicherweise den Revolver hiergelassen. Doch ich will ihn noch nicht benutzen. Dieser Mann hat zuviel Einfluß bei Scotland Yard...

Ich wünschte, ich hätte ihn eben erschossen. Nun, da der Tod so nahe ist, könnte ich wohl die Vorstellung, aufgehängt zu werden, ertragen - wenn mir nur noch ein paar Wochen bis dahin blieben. Die Lampe ist bald ausgebrannt, und ich hätte es auch vorgezogen, mich auf eine vornehmere Art und Weise zu töten, mit großer Abschiedsgeste oder zumindest in angemessenerer Kleidung.

Jene Leichtigkeit, die mich beim Schreiben meiner Predigten immer beflügelte, scheint mich nun im Stich zu lassen. Habe ich Gott gelästert? Doch ein Mann meiner Begabung, so sage ich mir, kann schlechterdings so etwas nicht tun; denn meine Unterweisungen fanden doch - selbst wenn ich nie ordiniert wurde - stets höchsten Anklang. Wo war der Denkfehler in meinen Planungen? Das habe ich auch Dr. Fell gefragt. Das war der Grund, warum ich ihn noch sprechen wollte. Sein Verdacht gegen mich wurde zur Gewißheit, als ich - etwas übereilt, um mögliche Zweifel im Keim zu ersticken - behauptete, Timothy habe auf dem Totenbett ein Mitglied seiner Familie beschuldigt, ihn getötet zu haben. Das war übereilt, doch es war nur folgerichtig. Ach, wenn mir doch nur wirkliche Chancen in diesem Leben gegeben worden wären, echte Möglichkeiten für meine brillante Intelligenz! - Ich bin ein großer Mann. Nur schwer kann ich mich dazu durchringen, den Stift vom Papier zu lassen - denn dann muß ich dieses andere Ding in die Hand nehmen.

Ich hasse jeden. Ich würde die Welt ausradieren, wenn ich das nur könnte. Nun muß ich mich erschießen. Ich habe Gott gelästert. Ich, der ich insgeheim nie an Gott geglaubt habe, ich bete, ich bete... Gott stehe mir bei. Ich kann nicht mehr schreiben. Mir wird übel.

T. S.

Er erschoß sich nicht. Als sie die Tür zum Arbeitszimmer öffneten, stand er ohnmächtig bebend da- den Revolver halb zur Schläfe geführt, ohne den Mut, den Abzug zu betätigen.

Nachwort

John Dickson Carr (1906-1977) stammte aus Uniontown, Pennsylvania. Schon früh faszinierten ihn die Detektivgeschichten von Arthur Conan Doyle, Gaston Leroux und G. K. Chesterton; deren Hauptfiguren Sherlock Holmes, Rouletabille und Pater Brown regten ihn zur Schaffung eigener Detektivfiguren an. Nachdem Carr für ein Jahr in Paris gewesen war, erschien 1930 sein erster Roman »It walks by Night« mit dem exzentrischen Pariser Sureté-Chef Bencolin als Helden, der bis 1937 noch in vier weiteren Romanen, darunter »Castle Skull« (1931) und »The Waxworks Murders« (1932) die Hauptfigur darstellt. Während der letztgenannte Roman eine recht dünnblütige und verworrene Geschichte um die Geheimnisse eines Pariser Wachsfigurenkabinetts ist, vermag der am Rhein bei Koblenz spielende Roman »Castle Skull« durch seine phantastische Szenerie, ein spannendes Duell von Superdetektiven und die bizarre Konstruktion der Vorgänge auf »Schloß Schädel« eigenen Reiz und Spannung zu entfalten.

Zu Anfang der dreißiger Jahre heiratete Carr Clarice Cleaves, die er - ähnlich wie sein Held Tad Rampole im vorliegenden Roman -auf einer Europareise kennengelernt hatte. Er ließ sich in England nieder und begann, regelmäßig zu schreiben. Im Jahre 1936 wurde er in den London Detective Club aufgenommen, einen exklusiven Zirkel, dessen Präsident Carrs Jugendidol G. K. Chesterton war. Carr schrieb Hörspiele für die BBC und Kurzgeschichten für »The Strand«; während des Krieges produzierte er sowohl Propagandasendungen als auch ein höchst populäres wöchentliches Showprogramm mit dem Titel »Appointment with Fear«. Nach dem Krieg verfaßte er zusammen mit Adrian Conan Doyle eine Biographie von dessen Vater Sir Arthur. Während der Regierungszeit der Labour-Party zog Carr es vor »dem Sozialismus zu entfliehen« (so seine Worte) und sich im Staate New York niederzulassen. Zwischen 1951 und 1958 lebte er erneut in England, danach bis zu seinem Lebensende in Greenville, South Carolina.

John Dickson Carr, der auch unter den Pseudonymen Carter Dickson und Carr Dickson schrieb, hat mehr als 80 Detektivromane veröffentlicht. In fünf Romanen ist Bencolin der Detektiv, in 25 Romanen tritt der beleibte und biertrinkende Dr. Gideon Fell auf und in weiteren 25 der laute und leicht vulgäre Adlige Sir Henry Merryvale, dessen Charakter Carr nach und nach Züge von Sir Winston Churchill unterlegte und den Carr selbst von seinen Detektivgestalten am meisten schätzte. Carr zählt zu den Hauptautoren des klassischen Detektivromans des golden age. In Agatha Christies Roman »Die Tote in der Bibliothek« (das Original erschien 1942) taucht ein krimibegeisterter Junge auf, der zu Superintendent Harper von Scotland Yard sagt: »Mögen Sie Detektivromane? Ich schon! Ich lese alle. Ich habe bereits Autogramme von Dorothy Sayers und Agatha Christie und von Dickson Carr und H. C. Bailey.« Mit größter Selbstverständlichkeit nennt also eine der großen Damen des angelsächsischen Rätselkrimis in kokett ironischem Schlenker den Amerikaner Carr in einem Atemzug mit den bedeutendsten Autoren von mystery fiction in der Zwischenkriegszeit - einschließlich ihrer selbst. Daß er dennoch bis heute den ihm gebührenden Ehrenplatz in den Regalen der deutschen Krimifans nicht gefunden hat, mag zum Teil damit zusammenhängen, daß der Wahlengländer Carr für seine Krimigerichte die mit Abstand »britischsten« Zutaten verwendet: Er geizt nicht mit Schlössern, verfallenen Gefängnissen, Gespenstern, schauriger Hochmooratmosphäre, Geheimgängen und kauzigen bis sadistischen Mördern. Nicht selten steigert sich Carrs Erfindungskraft dabei derart ins Groteske, daß die literarischen Produkte fast wieder - unfreiwillig - surreale Qualität gewinnen, wie z. B. in »The Man Who Could Not Shudder«, wo ein Revolverschuß sich selbsttätig löst oder ein Butler am Kronleuchter turnt. Auch die Aufzählung möglicher Todesfallen, die Dr. Fell im achten Kapitel des vorliegenden Romans, der 1933 unter dem Titel »Hag's Nook« erschien, im Rahmen allgemeiner Bemerkungen zum Thema Detektivroman und Wirklichkeit gibt, ist weder vollständig noch -wie die Stelle suggerieren könnte - auf die Detektivliteratur vor John Dickson Carr beschränkt. Im Gegenteil. Die barocke Vielfalt und bizarre Phantasik der Aufzählung läßt sich geradezu als ein Programm kommender Carr-Romane lesen: »The Man Who Could Not Shudder« (1940), »The Case of the Constant Suicides« (1941) oder »Dark of the Moon« (1966) etwa drehen sich alle auf die eine oder andere Weise um das Gewicht an der Decke, die magische Pistole oder das tödliche Bett.