Es läßt sich also nicht ohne weiteres behaupten, John Dickson Carr habe die Gattung des Detektivromans erweitert oder in ihrer historischen Entwicklung innovativ gewirkt, wie dies auf Sayers, Chandler oder Simenon zutrifft. Jedoch verstand er es in den gelungensten seiner Werke, die aus Elementen der Romantik und des Schauerromans erwachsene und durch E. A. Poe, Emile Gaboriau, Wilkie Collins, A. Conan Doyle und andere zu einer reproduzierbaren Form entwickelte Gattung auf einem Höhepunkt ihrer Entwicklung zu zeigen: Kaum sonst ein Autor hat so konsequent wie John Dickson Carr das Gebot der Fairness gegenüber dem Leser eingehalten, um diesem durch Mitteilung aller wesentlichen Tatsachen und clues eine wirkliche Chance zur eigenen erfolgreichen Beteiligung am Mördersuchspiel zu geben.
Der vorliegende Roman »Hag's Nook« (1933) ist der erste, in dem Carr seinen Detektiv Dr. Gideon Fell auftreten läßt. Fell wird uns als Lexikograph vorgestellt, ein Beruf, von dem aber in späteren Romanen nicht mehr die Rede ist, wie er dann auch nur noch einen statt zweier Stöcke zum Gehen benötigt. Carr hat die Gestalt Dr. Fells ganz bewußt und, wie man mit einem Blick auf entsprechende Fotos leicht feststellen kann, überraschend genau nach dem Vorbild seines Jugendidols Chesterton modelliert, in der Absicht, eine möglichst populäre Figur zu kreieren. Nicht nur Fells Aussehen -riesiger Kopf, massige Gestalt, Kneifer am schwarzen Band, Umhang, Banditenschnäuzer, Zwinkern in den Augen -, sondern selbst solche Eigenschaften wie die Vorliebe für Bier und Tabak und die weltzugewandte Lebensfreude galten der damaligen Öffentlichkeit gerade als unverkennbare Merkmale des berühmten Schöpfers von Pater Brown. Sogar die ausgesprochen intellektuelle Streitsucht Dr. Fells und seine für einen literarischen Detektiv nicht selbstverständliche Freude an Detektivgeschichten weisen ihn als Abbild Chestertons aus. Dieser lieferte sich eine erbitterte Pressefehde u. a. mit G. B. Shaw, die Carr in dem Streit zwischen K. I. Campbell und Alan Campbell und der verwirrenden Einmischung Dr. Fells in »The Case of the Constant Suicides« karikiert hat (»Die schottische Selbstmord-Serie«, DuMont's Kriminal-Bibliothek 1018). Ferner veröffentlichte Chesterton gar eine Streitschrift mit dem schönen Titel »Verteidigung des Unsinns, der Kriminalromane, der Demut und anderer mißachteter Dinge«, von der nicht weniges anspielungsreich Eingang in diesen ersten Dr.-Fell-Roman fand. Chesterton, den Carr übrigens, obwohl beide zur gleichen Zeit Mitglieder des Londoner Detective Club waren, nie persönlich kennengelernt hat, soll gegen sein literarisches Konterfei nichts einzuwenden gehabt haben.
»Hag's Nook« ist als das sechste Werk des damals 27jährigen Autors zweifellos einer der gelungensten aus der langen Reihe von Romanen Carrs und sicher auch einer der reizvollsten klassischen Detektivromane überhaupt. Selten gelang Carr der funktionale und ökonomische Einsatz seiner erzählerischen Mittel so überzeugend wie in den Geheimnissen um die Familienlegende der Starberths. Jedes Kapitel hat seinen eigenen Höhepunkt, die Story ist bis auf wenige Punkte schlüssig (z. B.: Warum raubt der Mörder das ihn inkriminierende Dokument nicht, bevor es in den Safe gebracht wird? Ist es wirklich überzeugend, daß der Mörder zwei Jahre in Chatterham bleibt, nur weil er bei einer Flucht auf der ganzen Welt gesucht würde? Wie kann Dr. Fell wissen, daß der Mörder ein Taschentuch im Brunnenversteck verloren hat?), die wesentlichen Informationen sind geschickt verteilt und kaschiert, ohne jedoch für den Leser vollständig unauffindbar zu sein, und die verschiedensten Elemente (Kryptogrammgedicht, schriftliches Geständnis, Familiendokumente, Liebesgeschichte, schauriges Ambiente) sind durch erzählerisches Können zu einem geschlossenen literarischen Ganzen verwoben.
Besonders die einfach, aber wirkungsvoll aufgebaute optische und akustische Kulisse, das Gewebe der gattungsgeschichtlichen Anspielungen und die unregelmäßig aufblitzende Ironie des Autors (z. B. besitzt der erschlagene Martin Starberth ausgerechnet Zigaretten der Marke »Lucky Strike«, was auch »Glücksfall, Treffer, gelungener Hieb« heißen kann) tragen neben der Detektionsspannung erheblich zum Reiz des Romans bei. Conan-DoyleZitate (z.B. Rampoles Erinnerung an Inspektor Lestrade im 12. Kapitel und seine Gedanken bei der ersten Begegnung mit Dr. Fell) weisen auf die prägende Funktion hin, die die literarischen Schöpfungen des »Vaters« von Sherlock Holmes nicht nur auf Carr hatten. So macht sich auch in »Hag's Nook«, ganz wie in Doyles »Hound of the Baskervilles« (1902), der Mörder eine alte Familienlegende über eine Serie unheimlicher Todesfälle zur Kaschierung seiner ruchlosen Taten nutzbar.
Vielfältiger und deutlich zu einem Referenzsystem ausgebaut sind die Bezüge zwischen »Hag's Nook« und Conan Doyles erstem Sherlock-Holmes-Roman »A Study in Scarlet« (1887): Bei Doyle liegt die Lösung tatsächlich in Amerika, bei Carr wird dies - vom Butler Budge - nur erwogen; beide erwähnen E. A. Poe als Ahnherrn der Gattung, beide lassen den Detektiv zur Absicherung seiner Theorie ein Telegramm abschicken, beiden ist für die Aufklärung des Falles von Bedeutung, daß es um ein Uhr zu regnen aufhörte; beide Romane enthalten einen Mörder, der vor seinem sicheren Ende ein wahres Geständnis ablegt, beide einen freundlichen Polizisten (Lestrade bzw. Sir Benjamin), der zwei mögliche, aber falsche Lösungen anbietet. Auch die Unwirtlichkeit der Großstadt wird von Carr ebenso wie von Doyle thematisiert: Der Satz Watsons zu Beginn des Holmes-Romans - »Der Anblick eines freundlichen Gesichts inmitten der großen Wildnis von London ist für einen einsamen Mann etwas sehr angenehmes« - trifft exakt auch auf die Situation Rampoles zu bei dessen Zusammentreffen mit Dorothy auf dem Bahnhof. Auch das Verhältnis von Rampole zu Dr. Fell wird von Carr, so bezeichnend wie ironisch, mit sozusagen Doyleschen Termini definiert: Denn indem Carr seinen Rampole, als dieser im Zug Dr. Fell kennenlernt, jenen Satz im Kopf herumspuken läßt (»Wie ich sehe, kommen Sie aus Afghanistan«), den auch Holmes bei seiner ersten Begegnung zu Watson gesagt hatte, erhält er vor den Augen der krimilesenden Weltöffentlichkeit den Ritterschlag zur Watsonfigur. Und schließlich hat Carr in diesem ersten Dr.-Fell-Roman den Titel des siebten Kapitels von »Study in Scarlet«, der auch als Kernsatz einer Beschreibung des Detektivromans schlechthin verstanden werden kann - »Light in the Darkness« -, vom Metaphorischen wieder ins Dinghafte zurückversetzt, ihn dabei jedoch inhaltlich umgekehrt: Denn das Licht, das Rampole vom Yew Cottage aus in der Dunkelheit herüberschimmern sieht, bringt kein Licht in die Familienangelegenheit der Starberths...