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Wie dieses Licht die Dunkelheit erst sichtbar macht, wird durch Klang die Stille erst vernehmbar - leitmotivisch zieht sich diese Erkenntnis durch »Hag's Nook« und baut damit den eigentümlich sinnlichen Grundton der ebenso schauerlichen wie melancholischen Atmosphäre des Buches auf. Das Knacken von Feuerholz in der Stille, das Ächzen Dr. Fells, das Klacken der Spitzen seiner Stöcke, Hundegebell in der Ferne, Rascheln von Schritten im Gras, aneinanderstoßende Gläser, quietschende Dielenbretter, das Geräusch eines Messers auf dem Teller, das Ticken der Standuhr, der rauschende Regen, das Quaken der Frösche, die singenden Autoreifen, das Schrillen des Telefons: All diese Elemente sorgen dafür, daß das Schweigen in »Hag's Nook« immer ein beredtes und die Stille stets vielsagend ist. Denn das kleine Geräusch ist einerseits überhaupt erst in der Stille vernehmbar, andererseits dient es als Manometer des Schreckens, als Anzeiger sowohl der äußeren Ruhe wie der inneren Erstarrung der Protagonisten.

John Dickson Carr hat auch einige historische Romane verfaßt. In »Captain Cut-Throat« (1955) spielt Fouché, der Polizeichef im Paris des späten 18. Jahrhunderts, eine zwielichtige Rolle in einem Mordkomplott, in das Napoleon Bonaparte persönlich verwickelt ist. Laurence Sterne, Autor des »Tristram Shandy«, tritt als dem Trunk ergebener Geistlicher in »The Demoniacs« (1962) auf, und in »The Hungry Goblin« (1972) spürt sogar Wilkie Collins, Verfasser der frühen Detektivromane »The Woman in White« (1860) und »The Moonstone« (1868) als Amateurdetektiv den Geheimnissen hinterher. Zweifellos verteilen sich die Qualitäten in Carrs Gesamtwerk nicht ganz gleichmäßig. Carr konnte, wie der renommierte amerikanische Krimikritiker Anthony Boucher es ausgedrückt hat, mit der gleichen Leichtigkeit »Plots und Ideen aus dem Ärmel schütteln wie Schubert Melodien«. Dennoch ist auf die immanente Stimmigkeit seiner Geschichten, so bizarr diese im Einzelfall auch sein mögen, in der Regel Verlaß. Die locked-room-mysteries, die zu Dr. Gideon Fells ausgesprochenen Vorlieben zählen und denen er im 17. Kapitel von »The Hollow Man« eine eigene, berühmt gewordene Vorlesung widmet, sind stets - wie ja auch im Falle des Toten unterm Balkon des Gouverneurszimmers -ausgesprochen sorgfältig und liebevoll ausgetüftelt. Wie andere Autoren des Genres auch, bemühte Carr sich zudem, seine einzelnen Romane im Laufe der Zeit durch ein Netz von Verweisen miteinander zu verknüpfen: In »The Case of the Constant Suicides« (1941) wird auf das Showdown von »The Man Who Could Not Shudder« (1940) angespielt, in »Below Suspicion« (1949) findet »The Crooked Hinge« (1938) Erwähnung, und in »The Hollow Man« (1935) tauchen die Liebenden aus »Hag's Nook« als Ehepaar Rampole wieder auf.

Ganz bewußt grenzt Carr sich schon in »Hag's Nook« gegen die gleichzeitig entstehenden hard-boiled-Romane, etwa seines Landsmannes Hammett (»Red Harvest«, 1929), ab. England ist nicht Chikago, dies wird mehrfach betont. Vielmehr ist dort die Zeit stehengeblieben: Der Zug bringt Tad Rampole nicht nur fort aus der Großstadt, sondern auch zurück in die Vergangenheit, in ein Gebiet eigentümlicher Zeitlosigkeit. Zwar spielt der Roman im Jahr 1932, große Teile der Vorgeschichte dagegen im späten 18. Jahrhundert, so daß sich die beschworene Atmosphäre, nicht zuletzt durch Erwähnung von Dickens und Cruikshank, eher dazwischen, in einem zeitlosen Niemandsland des 19. Jahrhunderts verdichtet. Entsprechend »altmodisch« sind die Mordmethoden, Maschinenpistolen und Dynamit sind undenkbar. Carr zeichnet von der englischen Provinz eine ähnliche Karikatur wie Agatha Christie mit ihren Miss-Marple-Romanen von dem Städtchen St. Mary Mead. In Chatterham - auch als »Tratschheim« übersetzbar - ist, wie Tad und Dorothy schmerzlich erkennen müssen, der Klatsch allgegenwärtig. Auch der Spielcharakter des Buches ist ausgeprägter als in den Werken der hartgesottenen amerikanischen Schule: Dr. Fell selbst weist daraufhin, als er sein eigenes Vorgehen und das des Mörders im 17. Kapitel mit einem Schachspiel vergleicht. Dennoch oder gerade deswegen ist »Hag's Nook« kein Roman, dessen Reiz sich nach einmaliger Lektüre und Kenntnis des Mörders erschöpft hätte. Welchem Leser wäre beispielsweise auf Anhieb aufgefallen, daß Carr seinem Mörder eine überraschende und witzige »Markierung« in Form der Kopfbedeckung verpaßt hat? Alle Personen des Romans laufen mit unvorschriftsmäßig sitzenden Hüten durch die formbedachte englische Welt: Dorothys schiefsitzender Hut, die Reisekappe des Anwalts, das Spitzenhäubchen der Mrs. Bundle, des Butlers helmartiger Hut, die banditenartigen Hüte Dr. Fells und des Chief Constables - der Mörder jedoch läuft im entscheidenden Moment ohne jede Kopfbedeckung herum ... Sorgfältige Komposition, dies könnte eine Quintessenz solcher Beobachtung sein, war für John Dickson Carr ein Vergnügen. Als Leser dankt man es ihm erfreut.

Andreas Graf