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Rampole blickte seinen Gastgeber reglos an. Er merkte, daß er sich an die Armlehnen des Sessels klammerte.

»Aber Sie sagten doch, er sei bei vollem Bewußtsein gestorben, Sir. Hat er denn nicht gesprochen?«

»Ich war natürlich nicht dabei. Ich habe die Geschichte vom Pfarrer und von Payne. Sie erinnern sich doch an Payne? Ja, er hat gesprochen, er schien sogar in einer Art dämonischer Hochstimmung gewesen zu sein. Bei Tagesanbruch wußte man, daß er im Sterben lag. Nach Dr. Markleys Bericht hatte er bis dahin auf einem Brett geschrieben, das man ihm über das Bett gelegt hatte. Sie versuchten, ihn davon abzuhalten, doch er zeigte ihnen die Zähne. > Anweisungen für meinen Sohn<, soll er geknurrt haben -Martin war ja, wie gesagt, zu der Zeit in Amerika. >Die Bewährungsprobe muß er auf sich nehmen, oder etwa nicht?<«

Dr. Fell hielt inne, um seine Pfeife anzuzünden. Er sog die Flamme heftig in den Pfeifenkopf, als könne er sich auf diese Weise eine klarere Sicht verschaffen.

»Man zögerte, Mr. Saunders, den Pfarrer, zu verständigen, denn Timothy war ein alter Sünder und wütender Kirchenhasser. Trotzdem hatte er immer gesagt, Saunders sei ein Ehrenmann, auch wenn er nicht mit ihm übereinstimmen könne, und so holt man also den Pfarrer bei Sonnenaufgang herbei, um zu sehen, ob der alte Mann vielleicht doch einige Sterbegebete haben will. Er geht hinein, um mit dem alten Timothy allein zu sprechen. Nach einer Weile kommt er wieder raus und wischt sich den Schweiß von der Stirn. >Mein Gott<, ruft der Pfarrer, als ob er betet, >der Mann ist nicht mehr bei Verstand. Jemand muß mit hereinkommenA >Geht es um die letzte Beichte?< fragt Timothys Neffe verstört. >Ja, ja<, meint der Pfarrer, >aber das ist es nicht. Es ist die Art, wie er redet. < >Was hat er gesagt? < will der Neffe wissen. >Das darf ich Ihnen nicht sagen<, antwortet der Pfarrer, >aber ich wünsche, ich könnte es.<

Im Schlafzimmer hört man Timothy vergnügt krächzen, obwohl er sich doch wegen der Schienen kaum noch bewegen kann. Als nächstes ruft er Dorothy allein zu sich herein; danach seinen Anwalt Payne. Payne ist es auch, der schließlich die Nachricht bringt, es ginge mit ihm zu Ende. Während also draußen der Tag beginnt, betritt man gemeinsam den eichengetäfelten Raum mit dem Himmelbett. Timothy kann kaum noch reden, aber er sagt noch ein deutlich vernehmbares Wort: >Taschentuch< - und scheint dabei zu grinsen. Während die anderen sich niederknieen, spricht der Pfarrer die Gebete; als Saunders eben das Zeichen des Kreuzes macht, dringt etwas Schaum aus Timothys Mund, er zuckt noch einmal und stirbt.«

Während einer langen Stille konnte Rampole draußen die Amseln singen hören. Die sinkende Sonne stand tief in den Zweigen der Eiben.

»Wirklich ungewöhnlich«, pflichtete der Amerikaner schließlich bei. »Aber wenn er nichts gesagt hat, dann liegen doch schwerlich genug Gründe für einen Mordverdacht vor.«

»Meinen Sie?« sagte Dr. Fell nachdenklich. »Nun, vielleicht... In derselben Nacht - des Tages, an dem er starb, meine ich -, in derselben Nacht war im Fenster des Gouverneurszimmers ein Licht zu sehen.«

»Hat jemand nachgeforscht?«

»Nein. Für kein Geld der Welt bekäme man einen der Dorfbewohner nach Einbruch der Dunkelheit auch nur in die Nähe des Gefängnisses.«

»Na gut, Einbildung, Aberglaube.«

»Nein, keine Einbildung, kein Aberglaube«, versicherte der Doktor und schüttelte den Kopf. »Das denke ich nicht. Ich habe das Licht selbst gesehen.«

Zögernd fragte Rampole: »Und heute nacht muß dieser Martin Starberth also eine Stunde im Gouverneurszimmer verbringen. ..«

»Ja. Wenn er sich nicht davor drückt. Er war schon immer ein nervöser Bursche, ein Träumer, und die Sache mit dem Gefängnis kam ihm immer etwas heikel vor. Das letzte Mal war er vor ungefähr einem Jahr in Chatterham, als er zur Eröffnung von Timothys Testament nach Hause kam. Eine der testamentarischen Bestimmungen für den Erben war natürlich, daß er die übliche >Bewährungsprobe< zu bestehen hätte. Dann vertraute er das Herrenhaus seiner Schwester und seinem Vetter Herbert an und kehrte wieder nach Amerika zurück. Auch jetzt hält er sich in England nur für die Zeit der - Festlichkeiten auf.«

Rampole schüttelte den Kopf.

»Sie haben mir jetzt eine ganze Menge erzählt«, sagte er, »nur nicht den Ursprung des Ganzen. Ich verstehe den Sinn dieser Tradition nicht.«

Dr. Fell nahm seinen Zwicker ab und setzte sich eine Lesebrille auf, die ihm das Aussehen einer Eule verlieh. Einen Moment lang beugte er sich, die Hände an den Schläfen, über die Papiere auf seinem Schreibtisch.

»Ich habe hier Abschriften des offiziellen Journals, das Anthony Starberth, Esquire, Gouverneur des Chatterham-Gefängnisses von 1797 bis 1820, und Martin Starberth, Esquire, Gouverneur von 1821 bis 1837, täglich wie eine Art Logbuch geführt haben. Die Originale werden im Herrenhaus aufbewahrt, aber der alte Timothy erlaubte mir damals, sie abzuschreiben. Eines Tages sollten sie mal in Buchform veröffentlich werden, als Streiflicht auf die Bestrafungsmethoden jener Zeit.« Er verharrte eine Weile mit gesenktem Kopf, sog stetig an seiner Pfeife und starrte nachdenklich auf sein Tintenfaß. »Wissen Sie, in jenen Zeiten, im Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts, gab es nur wenige Zuchthäuser in Europa. Kriminelle wurden entweder sofort gehenkt oder gebrandmarkt, verstümmelt und dann laufengelassen, oder sie wurden in die Kolonien deportiert. Es gab zwar Ausnahmen, zum Beispiel für säumige Zahler, doch in der Regel wurde kein Unterschied gemacht zwischen Leuten, die bereits verurteilt waren, und denen, die noch auf ein Gerichtsverfahren warteten. Das tückische System warf alle in einen Kerker.

Dann begann ein Mann namens John Howard eine Kampagne zur Einführung von Zuchthäusern. Mit dem Bau des Chatterham-Gefängnisses wurde sogar noch vor dem in Milbank begonnen, welches gewöhnlich als das älteste gilt. Es wurde errichtet von den Sträflingen, die es beherbergen sollte; mit Steinen, die auf dem Land der Starberths gebrochen wurden; bewacht von den Musketen einer Truppe Rotröcke, die Georg III. extra zu diesem Zweck abkommandiert hatte. Die neunschwänzige Katze fand großzügige Anwendung, Arbeitsverweigerer wurden an den Daumen aufgehängt oder auf andere Weise gefoltert. - Sie sehen, an jedem Stein klebt Blut.«

Dr. Fell machte eine Pause, und Rampole fielen unwillkürlich jene alten Worte ein, die er laut wiederholte: »Und ward ein großes Geschrei in Ägypten...«

»Ja, groß und bitter. Das Amt des Gouverneurs wurde natürlich Anthony Starberth übertragen. Seine Familie war damals schon lange in derartigen Angelegenheiten tätig. Anthonys Vater war, glaube ich, Stellvertreter des Sheriffs von Lincoln. Es wird überliefert«, sagte Dr. Fell und zog mit kräftigem Schnauben die Nase hoch, »daß Anthony an jedem Tag, den die Bauarbeiten dauerten, ob hell oder dunkel, bei Sonne oder Hagel, auf einer buntgescheckten Stute herausgeritten kam, um die Arbeiten zu überwachen. Und die Gefangenen lernten ihn kennen - und hassen. Deutlich sahen sie ihn auf seinem Pferd thronen, mit seinem Dreispitz und einem blauen Wollumhang vor dem weiten Himmel und dem schwarzen Hintergrund des Moores.

Anthony hatte in einem Duell ein Auge verloren. Er war ein ziemlicher Dandy, dabei sehr geizig, außer, wenn es um seine eigene Person ging. Er war kleinlich und grausam, schrieb jede Menge schlechte Gedichte und haßte seine Familie, weil sie darüber spottete. Ich glaube, er sagte immer, sie würden nochmal dafür bezahlen müssen, daß sie sich über seine Gedichte lustig machten.

Das Gefängnis wurde 1797 vollendet, und Anthony zog ein. Er war es, der die Regel einführte, daß der älteste Sohn nachzusehen habe, was von ihm im Tresor des Gouverneurszimmers hinterlegt worden war. Unter seiner Leitung war das Gefängnis, das muß ich wohl nicht extra betonen, die Hölle selbst. Ganz bewußt mäßige ich meinen Bericht. Dieses eine Auge und sein Grinsen. .. Es war gut«, sagte Dr. Fell und legte seine Hand auf die Papiere, als wollte er das Geschriebene fortwischen, »es war gut, mein Junge, daß er rechtzeitig alles für den Fall seines Todes arrangiert hatte.«