Bruder Solin schüttelte langsam den Kopf.
»Es kommt eine Zeit, Fidelma, in der das Großkönigtum nicht mehr nur ein leerer Titel sein wird. Der einzige Weg, dieses Land groß zu machen, nicht nur zu einem Land sich streitender Provinzkönigreiche, führt über einen starken Großkönig, der alle Königreiche in seinem Griff vereint.«
Fidelmas Augen funkelten gefährlich.
»Und dieser Großkönig wäre natürlich ein Ui Neill?«
»Wer könnte das Land besser voranbringen als die Nachkommen von Niall von den Neun Geiseln? Gestern abend hast du behauptet, die Eoghanacht stammten von Eber ab, dem Sohn des Milesius. Aber besitzen nicht die Ui Neill einen ähnlichen Anspruch durch Eremon, den älteren Sohn des Milesius, der im Norden herrschte? Hat nicht Eremon Eber erschlagen, als der versuchte, diese Macht an sich zu reißen?«
Trotz der Erregung Bruder Solins hatte Fidelma während dieser Auseinandersetzung ihre Stimme nicht erhoben. Sie blieb leise und unbewegt.
»Ich habe Sechnassach, den Sohn von Blathmaic, kennengelernt, der den Thron in Tara innehat. Er ist ein Mann von Grundsätzen und würde nie so nach Macht gieren, wie du es beschreibst. Er beansprucht Tara entsprechend dem Brauch des Vorrangs. Er gehorcht den Gesetzen der fünf Königreiche.«
»Sechnassach? Dieser Abkömmling von Blathmaic mac Aedo Slaine!« Es war ein unwillkürlicher, verächtlicher Ausruf. Dann veränderte sich Bruder Solins Miene jäh. Er schien seinen Ausbruch zu bereuen. Seine ganze Haltung änderte sich.
»Du hast recht, Fidelma.« Seine Stimme klang plötzlich einschmeichelnd. »Manchmal lassen meine Träume von einem besseren System des Königtums in diesem Land mich die Wirklichkeit vergessen. Du hast natürlich recht. Absolut recht. Sechnassach würde sein Amt nie mißbrauchen.«
Fidelma wußte, daß Bruder Solin begriffen hatte, daß er zuviel gesagt hatte. Doch es war nicht genug, um sie erkennen zu lassen, weshalb der Kleriker nach Gleann Geis gekommen war.
»Du hast mir immer noch nicht erklärt, wozu Ultan einen Vertreter zu diesem einsamen Vorposten des Christentums schicken sollte?« drängte sie ihn. »Er könnte den Zustand des Glaubens viel einfacher erfahren.«
Bruder Solin zuckte ausdrucksvoll die Achseln.
»Vielleicht hat er von den Schwierigkeiten gehört, denen sich Imleach bei der Bekehrung dieses Gebiets zum wahren Glauben gegenübersieht, und mich gebeten, hierher zu reisen und zu schauen, was sich machen läßt? Möglicherweise ist es auch reiner Zufall, daß ich gerade in dem Augenblick angekommen bin, in dem du über die Mittel verhandelst, durch die Im-leach Licht in dieses dunkle Tal bringen könnte.«
»Drei falsche Feststellungen.« Fidelma funkelte ihn an und zitierte einen der Dreisätze von Eireann: »>Vielleicht<, >möglicherweise< und >ich vermute<!«
Bruder Solin lachte anerkennend über ihre Gelehrsamkeit.
»Nun, Schwester, wenn ich dir sonst noch einen Rat geben kann ...?«
Eadulf beugte sich vor, um dem Gespräch besser folgen zu können, als er ein hohles Hüsteln hinter sich vernahm.
»Geht es dir nicht gut, Bruder?«
Mit rotem Gesicht richtete sich Eadulf auf und sah sich dem jungen Bruder Dianach gegenüber, der ihn neugierig betrachtete. Er hatte völlig vergessen, daß Dianach in seinen Schlafraum gegangen war.
»Mir war ein wenig schwindlig«, murmelte er und suchte nach einer Erklärung für seine Haltung. »Dafür ist es gut, wenn man den Kopf zwischen die Knie nimmt.«
»Das hast du also versucht?« Eadulf wußte nicht, ob ihn Bruder Dianach aufzog oder nicht. »Das ist gefährlich, wenn man es an der Treppe macht. Ich hoffe, es geht dir besser, aber ich fürchte, du hast eine falsche Auffassung davon, wie man sich gesund erhält. Entschuldige, Bruder Eadulf.«
Damit ging der junge Mann die Treppe hinunter, bevor Eadulf eine passende Antwort gefunden hatte. Er ärgerte sich über sich selbst. Bruder Dianach faßte nun sicher den Verdacht, daß Eadulf an der Treppe gehockt hatte, um dem Gespräch unten zu lauschen.
Bruder Solin blickte auf, als er seinen Schreiber sah, und lächelte kurz.
»Guten Morgen, Bruder Dianach. Hast du deinen Griffel und die Tontäfelchen bereit?«
»Ja«, antwortete der junge Mann.
Bruder Solin blickte wieder Fidelma an.
»Ich meine, wir brauchen nichts weiter zu diesem Thema zu sagen, nachdem wir alles klargestellt haben?« fragte er mit leichter Betonung.
Fidelma erwiderte gelassen seinen Blick.
»Dem stimme ich zu«, sagte sie. »Jedenfalls für den Augenblick.«
Bruder Solin stand auf und wischte sich den Mund.
»Komm mit, Bruder Dianach«, befahl er und schritt zur Tür. »Wir müssen uns auf die Beratungen am Vormittag vorbereiten.« Er warf Fidelma einen Blick zu, den diese nicht deuten konnte.
Sobald sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, stolperte Eadulf die Treppe herab.
»Dianach hat mich überrascht, wie ich oben an der Treppe zuhörte ...«, begann er.
»Hast du mitbekommen, was zwischen uns vorging?« unterbrach ihn Fidelma.
»Ja. Ich dachte .«
»Bruder Solin verbirgt uns offensichtlich etwas«, erklärte Fidelma. »Ultan von Armagh hätte sonst kein Interesse an dieser abgelegenen Gegend. Hier geht irgend etwas anderes vor. Aber was? Das macht mir zu schaffen. Was führt Solin wirklich im Schilde?«
»Es gibt eine Ansicht, daß man, wenn man schon lügen muß, möglichst viel Wahrheit in die Lüge einbauen soll«, gab Eadulf zu bedenken.
Fidelma schaute Eadulf einen Moment an und lächelte dann erfreut.
»Manchmal erinnerst du mich an das Offenkundi-ge, Eadulf«, sagte sie. Dann überlegte sie. »Er hat uns zweifellos darüber belogen, wo er sich die Nacht über aufgehalten hat. Doch als ich ihn fragte, wo er heute morgen spazierengegangen sei, konnte er mir das ohne Zögern genau beschreiben. Vielleicht war er wirklich dort? Ich denke, wenn die Verhandlungen an diesem Vormittag beendet sind, erholen wir uns dadurch, daß wir einen Gang in diese Richtung unternehmen und sehen, was wir entdecken können.«
Sie blickte aus dem Fenster. Es wurde spät.
»Wir haben nicht mehr viel Zeit, bis der Rat zusammentritt. Ich meine, wir sollten jetzt noch einen kurzen Gang machen, um unsere Köpfe klar zu bekommen.«
Bruder Eadulf zog ein schmerzvolles Gesicht.
»Ich fürchte, meinen Kopf klar zu kriegen, erfordert mehr als einen Spaziergang, Fidelma. Der miese Wein hat meinen Körper vom Kopf bis zum Fuß durchdrungen. Ich habe den Eindruck, daß ich mehr als nur frische Luft brauche, um den Vormittag zu überstehen.«
So schlecht er sich auch fühlte, Eadulf ließ sich dennoch von Fidelma überreden, sie zu begleiten. Lieber hätte er sich wieder aufs Bett geworfen und geschlafen. Er empfand Übelkeit und Schwäche. Seine Haut schwitzte und juckte, und sein Mund war trok-ken.
In der Burg waren schon einige Leute auf den Beinen und eilten an ihre Tagesarbeit, obwohl das Fest für viele von ihnen erst beim Morgengrauen geendet hatte. Eadulf und Fidelma wurden ohne ein Zeichen von Feindseligkeit gegrüßt, von manchen sogar ganz freundlich. Alle aber betrachteten Fidelma mit Neugier. Ihre Antwort auf Murgals Lied war anscheinend Tagesgespräch geworden.
Als sie den Hof der Burg zum Tor hin überquerten, blieb Fidelma stehen und zeigte auf einen Karren, den ein kleiner, stämmiger Esel gerade durchs Tor hereinzog. Er war anscheinend mit Pflanzen aller Art beladen. Geführt wurde der Esel von einer großen schlanken Frau.