»Ich weiß nicht, was du damit meinst«, wich Bruder Solin aus.
Sie musterte ihn eingehend.
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich möchte nicht annehmen, daß du bewußt eine Rolle bei dieser Ablenkung gespielt hast.«
Sie wandte sich ab, eilte die Treppe hinauf, nahm ihre Satteltaschen und holte die Eadulfs aus dessen Zimmer. Dann kehrte sie in den Hauptraum zurück.
»Möglicherweise kreuzen sich unsere Pfade wieder einmal, Bruder Solin, aber ich hoffe, der Tag kommt nicht so bald«, sagte sie eisig, und ehe er antworten konnte, hatte sie das Gästehaus verlassen und schritt zu den Ställen.
Eadulf erwartete sie mit ihren Pferden. Er sah blaß aus, und es ging ihm offensichtlich nicht gut. Fidelma tat er leid, aber alles hing jetzt von dem ab, was sie tat.
»Was machen wir nun?« murmelte er. »Wir werden von einer Gruppe an der Ratssaaltür beobachtet.«
»Dann reisen wir ab, genau wie wir es gesagt haben.«
Fidelma schwang sich aufs Pferd. Eadulf folgte ihrem Beispiel, und Fidelma ritt voran zum Tor des rath. Die Krieger, die dort standen, schauten ihnen entgegen und blickten nervös zur Tür des Ratssaals, unsicher, wie sie sich verhalten sollten. Schließlich traten sie beiseite und ließen Fidelma und Eadulf durch.
Draußen stöhnte Eadulf auf.
»Ich werde nicht weit reiten können, ohne mich auszuruhen, Fidelma. Mir ist immer noch übel von dem schlechten Wein.«
»Das wirst du auch nicht brauchen«, beruhigte sie ihn.
»Ich wünschte, du würdest mir sagen, was genau du vorhast«, murrte er.
»Genau? Das kann ich dir nicht sagen. Möglicherweise muß ich meinen Plan von Minute zu Minute ändern.«
Eadulf unterdrückte ein neues Stöhnen. Er hätte alles für eine Stunde im Bett getan. Sogar für eine halbe Stunde.
»Du hast jedenfalls einen Plan?« fragte er hoffnungsvoll.
»Natürlich. Soll ich mit dir um einen screpall gegen einen sicuil wetten? Siehst du die Häusergruppe bei der Gabelung des Flusses?«
Eadulf schaute nach vorn und bejahte es.
»Das ist genau der Ort, zu dem Bruder Solin heute früh gegangen sein will«, fuhr Fidelma fort. »Nun, meine Wette lautet: Bevor wir dorthin gelangen, wird uns ein Reiter aus dem rath einholen, uns im Namen Laisres bitten zurückzukehren und unsere Verzeihung erflehen für die Ereignisse dieses Vormittags.« »Da ich dich kenne, Fidelma« - Eadulf rümpfte resigniert die Nase -, »werde ich mich hüten, auf deine Wette einzugehen. Aber manchmal wünschte ich mir, wir hätten einen leichteren Weg vor uns.«
Es war Laisre selbst, der sie kurz vor der Holzbrücke erreichte, die über den Fluß zu der Häusergruppe führte, die die Siedlung bildete, die dem rath am nächsten lag. Der Fürst von Gleann Geis blickte hinlänglich reumütig drein.
»Fidelma von Cashel, ich entschuldige mich. Es war mein Fehler, daß ich die Ratsversammlung außer Kontrolle geraten ließ.«
Sie hielten vor der Brücke, einander gegenüber.
Fidelma gab keine Antwort.
»Du hattest recht, Fidelma«, fuhr Laisre fort. »Du bist nicht hergekommen, um eine philosophische Debatte zu führen, sondern um praktische Vereinbarungen zu besprechen. Es war Murgal, der sich von seiner Feindseligkeit so weit fortreißen ließ, daß .«
Fidelma hob die Hand.
»Willst du damit sagen, daß du den Rat erneut einberufst, um die praktischen Fragen zu erörtern?«
»Natürlich«, stimmte Laisre sofort zu.
»Dein Druide und dein Rat sind sich anscheinend nicht mit dir einig in der Frage, den Bau einer christlichen Kirche in diesem Tal zu gestatten.«
»Komm zurück, und du wirst es sehen.« Laisres Ton war fast bittend.
»Wenn ich zurückkomme . « Fidelma legte eine bedeutungsvolle Pause ein. »Wenn ich zurückkomme, dann unter bestimmten Bedingungen in dieser Sache.«
Laisres Miene wurde mißtrauisch.
»Was für Bedingungen?« wollte er wissen.
»Dein Rat muß zusammentreten und eine Entscheidung fällen, ehe ich in Verhandlungen mit dir eintrete, eine Entscheidung darüber, ob ihr diese Kirche und diese Schule haben wollt oder nicht. Ist die Antwort negativ, wie es im Moment den Anschein hat, dann kehre ich ohne weiteren Zeitverzug nach Cashel zurück. Ist die Antwort bejahend, dann können wir uns den praktischen Dingen zuwenden. Aber diese Verhandlungen werden von dir und mir geführt und keinem anderen Mitglied deines Rates. Ich will Murgal nicht die Bühne bieten, auf der er seine Fähigkeiten als Schauspieler unter Beweis stellen kann.«
Laisre hob die Brauen.
»Dafür hältst du Murgal?« fragte er überrascht.
»Kann es sein, daß du das nicht tust?« gab sie zurück.
Einen Moment sah Laisre betroffen aus, doch dann begann er auf einmal herzlich zu lachen. Schließlich schüttelte er den Kopf.
»Es ist etwas dran an dem, was du sagst, Fidelma, das gebe ich zu. Aber unterschätze nicht seine ernsthafte Entschlossenheit.«
»Nein«, antwortete Fidelma ruhig. »Das tue ich nicht.«
»Dann bist du also bereit, zurückzukehren? Ich kann dir nicht garantieren, daß Murgal sich bei dir entschuldigt.«
»Das verlange ich auch nicht von ihm. Ich erwarte nur, daß alle Diskussionen, die dein Rat in dieser Frage führen will, abgeschlossen sind, bevor ich mit dir über praktische Vereinbarungen verhandle.«
»Dafür gebe ich dir mein Wort.« Laisre streckte ihr die Hand entgegen. »Meine Hand darauf, Fidelma von Cashel.«
Fidelma sah ihn fest an, nahm die Hand aber nicht.
»Bevor wir zum Schluß kommen, und da wir in aller Offenheit sprechen, Laisre - was macht Bruder So-lin aus Armagh hier?«
Laisre fuhr überrascht auf.
»Ich dachte, er wäre auf dein Geheiß hier? Er kam her und brachte Geschenke von Armagh.«
»Mein Geheiß?« Fidelma faßte sich. »Hat er dir das gesagt?«
»Nein, aber er ist von deinem Glauben. Ich bin wohl davon ausgegangen ...« Er zuckte die Achseln. »Dann weiß ich nur, daß er als Reisender um unsere Gastfreundschaft bat. Die verweigern wir ihm nicht, nur weil er einem anderen Glauben angehört.«
Erst jetzt nahm sie Laisres Hand an.
»Ich traue deinem Wort, Laisre. Eadulf und ich werden bald zurückkehren.«
Laisre schien verwundert.
»Ihr reitet jetzt nicht mit mir zurück?«
»Wir möchten uns noch etwas in eurem schönen Tal umsehen. Wir kommen bald nach.«
Laisre zögerte und zuckte dann die Achseln.
»Na gut. Vielen Dank für deine Zustimmung.« Er trieb sein Pferd an und ritt in leichtem Galopp in Richtung rath davon.
Eadulf schaute ihm sehnsüchtig nach.
»Ich würde jetzt gern eine Weile schlafen«, klagte er. »Ich sehe nicht ein, wozu diese Spielchen gut sind, Fidelma.«
»Man nennt das Diplomatie, Eadulf.« Seine Gefährtin lachte. »Das Problem ist, daß mir nicht klar ist, wer dabei was spielt. Wollen wir mal schauen, ob diese Häusergruppe uns das verrät, was ich wissen möchte.«
Sie ritten über die Brücke auf einen winzigen Platz, der von einem halben Dutzend Heimstätten umgeben war. Die größte davon war ein stattliches Bauernhaus, die anderen nur Hütten, die entweder Bauern mit wenig Land oder Landarbeitern auf dem größeren Hof gehörten.
Eine große rotgesichtige Frau lehnte an der Tür des Bauernhauses und beobachtete ihr Näherkommen mit unverhohlener Neugier. Fidelma war sie schon aufgefallen, als sie noch an der Brücke mit Laisre sprachen. Sie sah wie eine typische Bauersfrau aus, untersetzt, mit muskulösen Armer und zu jeder Feldarbeit fähig. Sie musterte sie gründlich und mit etwas feindseliger Miene.
»Ich wünsche dir Gesundheit, gute Frau«, grüßte Fidelma.
»Mein Mann ist beim Rat«, gab die Frau in unfreundlichem Ton zurück. »Er heißt Ronan, und ihm gehört dieser Hof.«