»Das ist er wohl«, gestand Fidelma widerwillig, »aber ich würde es nicht wagen, ihn einzuschlagen.«
»Mein Rat und ich kommen heute nachmittag zusammen, um unsere Meinungsverschiedenheiten auszuräumen, und wir werden wahrscheinlich morgen vormittag unsere Verhandlungen wieder aufnehmen können. Ich entschuldige mich noch einmal für heute vormittag. Murgal ist ein ehrlicher Mann, aber er ist noch nicht davon überzeugt, daß die Duldung des neuen Glaubens zu etwas anderem führen wird als zum Verschwinden unseres Volkes. Er fürchtet die Veränderungen, die sich daraus ergeben.«
»Seine Haltung ist verständlich«, gab Fidelma zu. »Doch Heraklit sagte schon, daß in diesem Leben nichts beständig ist außer dem Wechsel.«
Laisre lächelte schwach.
»Ein weiser Spruch, aber es wird schwer werden, Murgal umzustimmen.« Er hielt inne und fügte dann hinzu: »Heute abend werden wir ein weiteres Fest feiern.«
Fidelma zuckte leicht zusammen.
»Vielleicht kannst du Bruder Eadulf und mich dabei entschuldigen?«
Der Fürst runzelte leicht die Stirn. Die Weigerung, an einem Fest teilzunehmen, grenzte schon an Beleidigung. Fidelma kannte die Gesetze der Gastfreundschaft. Sie fuhr eilig fort: »Ich stehe unter einem geis, der Verpflichtung, an jedem Tag nach dem Vollmond den Abend mit einfachem Essen und Meditieren über meinen Glauben zu verbringen.«
Laisres Augen weiteten sich leicht.
»Ein geis, sagst du?«
Fidelma nickte ernst. Ein geis war eine alte Verpflichtung, ein Tabu oder Gelöbnis, das jemandem auferlegt wurde und ihn zwang, die Vorschrift zu erfüllen. Der Begriff des geis lebte in den Brehon-Gesetzen fort. Der legendäre Kriegsheld von Ulaidh, Cüchulainn, hatte ein geis erhalten, niemals das Fleisch eines Hundes zu essen. Von seinen Feinden in eine Falle gelockt, mußte er schließlich doch Hundefleisch essen, und dieser Verstoß führte unweigerlich zu seinem Tode. Ein solches Verbot nicht zu beachten oder es zu übertreten bedeutete für den, der unter dem geis stand, aus der Gesellschaft und ihrer Ordnung ausgestoßen zu werden.
Fidelma hatte die Lüge nach einem ganz kurzen Kampf mit ihrem Gewissen ausgesprochen. Hatte nicht Brehon Morann gesagt: »Wer nie lügt, hat kein Schloß an der Tür seines Hauses. Unwahrheit ist zulässig als ein Mittel, sich vor einem größeren Übel zu schützen.« Sie wußte, daß Laisre es verstehen und eine solche Verpflichtung nicht in Zweifel ziehen würde.
»Nun gut, Fidelma. Ich will dich nicht weiter drängen.«
»Da wäre allerdings noch eins ...« Fidelma hielt ihn zurück.
»Du brauchst nur zu fragen.«
»Gibt es im rath eine Bibliothek?«
»Natürlich.« Einen Moment schien Laisre entrüstet. »Es sind nicht nur die Christen, die Bibliotheken besitzen.«
»Das wollte ich damit auch nicht unterstellen«, besänftigte ihn Fidelma. »Wo finde ich diese Bibliothek?«
»Ich zeige sie dir. Sie wird von Murgal als meinem Druiden und Brehon geführt.«
»Hätte er etwas dagegen, daß ich sie mir ansehe?«
»Ich bin sein Fürst«, erwiderte Laisre.
Er ging voran über den Hof zu dem Gebäude, in dem sich der Apothekerladen befand. Vom Haupteingang neben dem Laden führte eine Holztreppe zu den anderen Stockwerken. Laisre stieg sie empor bis zum dritten und letzten Stock und schritt einen Korridor entlang in den viereckigen, gedrungenen Turm, der den rath beherrschte.
»Das ist Murgals Wohnung.« Laisre zeigte auf einen angrenzenden Raum. »Und dies hier ist die Bibliothek.«
Fidelma betrat das kleine Zimmer, dessen Wände Reihen von Holzpflöcken zierten, an denen die Buchtaschen hingen. Jede Tasche enthielt einen ledergebundenen Band.
»Suchst du etwas Bestimmtes?« erkundigte sich Laisre, als Fidelma die Reihen entlangging und die Buchtitel einzeln musterte.
»Ich suche Gesetzbücher.«
Laisre wies auf mehrere Werke in einer Ecke. Er blieb zögernd stehen, als sie sie prüfend betrachtete. Fidelma achtete nicht weiter auf ihn, und schließlich räusperte er sich.
»Wenn du mich nicht weiter brauchst ...?« sagte er.
Fidelma schaute auf, als habe sie seine Anwesenheit vergessen, und lächelte entschuldigend.
»Es tut mir leid. Es dauert nicht lange, mir die Stelle anzusehen, die ich benötige. Aber du brauchst nicht auf mich zu warten. Ich finde selbst den Weg zurück.«
Laisre zögerte, dann nickte er.
»Wenn sich unsere Wege nicht früher kreuzen, sehe ich dich morgen vor dem Mittag im Rat.«
Er ging, und Fidelma wandte sich wieder den Buchtaschen zu. Sie suchte einen bestimmten Gesetzestext und fragte sich, ob der Brehon ihn wohl in seiner Sammlung von ungefähr zwanzig Texten besaß.
Schließlich fand sie das Gesuchte. Es war eine Abhandlung mit dem Titel Allmuir Set und betraf den Verkauf ausländischer Waren. Sie verbrachte eine halbe Stunde damit, den Text zu lesen, dann verstaute sie ihn wieder in seiner Tasche und hängte sie an den Pflock.
Mit nachdenklicher Miene verließ sie den Raum, stieg die Treppe hinab zum Hof und ging zuversichtlich zum Gästehaus.
Kapitel 10
Fidelma überquerte gerade den Hof, als Hufschlag am Tor des rath sie sich umwenden ließ. Er kündigte eine Reiterschar an, und Fidelma erkannte sofort Colla und Artgal an ihrer Spitze. Sie hielten und stiegen ab. Fidelma ging hinüber zu Colla, der seinen Sattelgurt lockerte.
»Also, Colla, was gibt es Neues?« fragte sie ohne Vorrede.
Der Tanist von Gleann Geis schaute mit säuerlicher Miene auf. Er war anscheinend wenig erfreut, sie zu sehen.
»Eine vergebliche Jagd«, verkündete er. »Ich hatte auch kaum etwas anderes erwartet.«
»Was hast du gefunden?« drängte sie.
»Sehr wenig«, meinte er wegwerfend. »Die Raben hatten sich satt gefressen. Kaum noch was zu sehen. Meine Männer und ich folgten einigen Spuren, aber die verloren sich bald auf dem steinigen Boden. Ich konnte lediglich feststellen, daß sie nach Norden führten.«
»Und?« forschte Fidelma. »Seid ihr ihnen nachgeritten?«
»Der Boden war steinig, wie ich schon sagte. Die Spuren waren bald verschwunden. Wir sahen uns so lange um, wie wir konnten, aber dann blieb uns weiter nichts übrig, als zurückzukehren.«
Unzufrieden kniff Fidelma die Augen zusammen.
»Soll ich das so nach Cashel berichten? Daß dreiunddreißig junge Männer hier in einem Ritualmord umgebracht wurden und nichts darüber festgestellt werden konnte?«
Colla richtete sich auf und blickte sie trotzig an.
»Ich kann keine Begründung aus dem Nichts hervorzaubern, Fidelma von Cashel. Selbst du hättest eine nicht vorhandene Spur nicht weiter verfolgen können.«
»Aber du sagst, die Spuren führten nach Norden? Wie weit seid ihr ihnen gefolgt?«
»Bis zu dem Ort, an dem sie nicht mehr sichtbar waren.«
»Welches Land liegt nördlich davon?« wollte Fidelma wissen.
»Die Corco Dhuibhne wohnen direkt nördlich von diesen Tälern.«
Fidelma preßte die Lippen zusammen.
»Sie sind ein ganz angenehmer Clan, und Fathan, ihren Fürsten, kenne ich. Diese Untat trägt nicht ihre Handschrift. Welche Länder liegen jenseits davon?«
»Nun, im Nordosten das Land deines Vetters, Congal von den Eoghanacht von Loch Lein, des Königs von Iarmuman. Findest du seine Handschrift darin?«
Fidelma mußte zugeben, daß sie das nicht tat.
»Aber dahinter liegt das Land der Ui Fidgente«, meinte sie nachdenklich.
Collas Augen verengten sich.
»Suchst du einen Sündenbock?« fragte er. »Die Ui Fidgente liegen zur Zeit am Boden. Dein Bruder hat sie bei Cnoc Äine besiegt. Sie sind schwach und zu keiner feindseligen Handlung fähig. Willst du sie bis zu ihrer Vernichtung verfolgen?«