Etwas widerstrebend entschloß sich Eadulf, nun ein Bad zu nehmen. Vielleicht würde ihn das ein wenig munterer machen.
Fidelma hatte inzwischen den rath verlassen. Sie wußte genau, wohin sie wollte. Sie brauchte fünfzehn Minuten bis hinunter zu Ronans Weiler. Vorher hatte sie sich beim Posten am Tor vergewissert, daß sowohl Ibor von Muirthemne als auch Murgal zum abendlichen Fest in den rath zurückgekehrt waren. Auf der Wiese neben Ronans Hof grasten zwei Pferde. Sie kletterte über die niedrige Steinmauer und gelangte auf die Wiese. Fidelma kannte sich mit Pferden aus. Sie hatte beinahe eher reiten als laufen gelernt. In dem berühmten Cuirrech, wo man seit unvordenklichen Zeiten jährlich große Pferderennen abhielt, wurde ihr Name immer noch mit Hochachtung genannt. Vor ein paar Jahren hatte sie dort den Mord an dem preisgekrönten Rennpferd des Königs von Laigin und seinem Jockey aufgeklärt.
Auf der Wiese befanden sich ein schwarzer Hengst und eine weiße Stute. Die Stute war scheu, doch der Hengst blieb brav stehen, als Fidelma ihm über Bug und Fesseln strich. Sie streichelte ihm sanft das Maul, bis er ihr erlaubte, es zu öffnen und seine Zähne zu besehen. Mit der Stute war es schwieriger, aber nach einer Weile schaffte es Fidelma, sie so weit zu beruhigen, daß sie sie sich ebenfalls genauer anschauen konnte.
»Was machst du da?« rief eine barsche Stimme.
Bairsech, Ronans Frau, stand in der Tür des Bauernhauses und betrachtete sie mit säuerlicher Miene.
»Ich sehe mir die Pferde an, Bairsech«, erwiderte Fidelma ungerührt. »Sind das die Pferde, die Ibor von Muirthemne gehören?«
Die Frau erkannte Fidelma, und ihre Miene verfinsterte sich noch mehr.
»Ja, das sind seine«, antwortete sie unwillig.
Fidelma spitzte die Lippen und betrachtete die Pferde.
»Hat er keine anderen bei sich?«
»Warum fragst du? Wenn du sie kaufen willst, er ist jetzt nicht hier, sondern oben im rath.«
»Tu mir den Gefallen«, antwortete Fidelma geduldig. »Hat er noch andere Pferde mitgebracht?«
»Nein, bloß diese beiden.« Bairsech war nach wie vor mißtrauisch. »Was geht dich das an?«
»Nichts«, erwiderte Fidelma. »Gar nichts. Ich sehe ihn sicher später im rath.«
Sie verließ die Wiese und machte sich an den Aufstieg zu Laisres Burg.
Als sie sie erreichte, hatte Eadulf inzwischen sein Bad genommen. Cruinn stellte gerade das Abendessen auf den Tisch. Von Bruder Dianach war nichts zu sehen. Eadulf berichtete ihr, Dianach sei zum Fest gegangen und Bruder Solin noch nicht ins Gästehaus zurückgekehrt. Fidelma überlegte einen Moment, ob sie erst ihr abendliches Bad nehmen sollte, entschied sich aber dafür, die Suppe nicht kalt werden zu lassen und später zu baden.
Cruinn fragte, ob sie noch etwas brauchten. Als sie das verneinten, wünschte sie ihnen einen guten Abend und ging.
Fidelma aß schweigend, Eadulf langte nur mäßig zu und trank nur Wasser, während Fidelma an einem Becher Met nippte.
»Worüber grübelst du nach, Fidelma?« brach Ea-dulf schließlich das Schweigen. »Ich weiß, daß deine Gedanken arbeiten, wenn du diesen abwesenden Blick hast.«
Sie holte ihren Blick aus der Ferne zurück.
»Ich denke an weiter nichts als daran, morgen vormittag die Angelegenheit mit Laisre abzuschließen, vorausgesetzt, Murgal und Solin sorgen nicht für weitere Verzögerung. Danach, wie ich schon sagte, müssen wir uns dem Geheimnis der hingemordeten jungen Männer zuwenden.«
»Meinst du wirklich, du kannst noch Hinweise finden, die Colla entgangen sind?«
»Ich meine gar nichts, bevor ich nicht die Beweislage geprüft habe. Dort jenseits der Schlucht lauert ein unheildrohendes, bedrückendes Geheimnis - eines, das mir ins Gesicht starrt und das ich trotzdem nicht lösen kann. Allerdings habe ich gerade etwas herausgefunden, was den seltsamen jungen Mann betrifft, der behauptet, er wäre Pferdehändler.«
Eadulf blickte interessiert auf.
»Außer der Tatsache, daß er das Handelsgesetz nicht kennt?« fragte er gespannt.
»Er hat nicht nur keine Ahnung vom Handelsgesetz, sondern das Vollblutpferd aus Britannien, das er angeblich hergebracht hat, um es zu einem hohen Preis zu verkaufen, das ist überhaupt kein Vollblutpferd.«
»Hast du es gesehen?«
»Ich bin zu Ronans Hof gegangen, wo Ibor untergekommen ist. Ich habe mir die beiden Pferde angesehen, die er mitführt, eine Stute und einen Hengst. Es sind beides keine jungen Pferde, sondern tüchtige Arbeitspferde. Sie sind ausgebildet, und zwar gut ausgebildet, als Kriegspferde. Beide tragen Narben und haben anscheinend schon in Schlachten Dienst getan.«
»Meinst du, daß er ein Betrüger ist?«
»Ich sage nur, daß keins der beiden Pferde das ist, für was er es ausgibt. Er sagt, er hätte ein Vollblutpferd aus Gwynedd, einem Königreich der Briten, mitgebracht. Solche Pferde sind kurzbeinig, haben einen breiten Bug, ein dickes, drahtiges Fell und ein dichtes Unterfell zum Schutz gegen die strengen Winter. Aber die Pferde, die er hier hat, sind überhaupt nicht reinrassig. Sie haben lange Beine und gehören zu der Art, wie sie aus Gallien eingeführt werden als Rennpferde oder für den Krieg. Seine Pferde sind zu alt, als daß sie einen Wert besäßen, der es rechtfertigen würde, daß er mit ihnen die weite Reise von Ulaidh in diesen entlegenen Winkel unseres Königreichs unternimmt. Mit anderen Worten: Ibor von Muirthemne ist ein Lügner!«
Sie beendeten die Mahlzeit in nachdenklichem Schweigen. Gedämpft klangen die Geräusche des Festes aus Laisres Halle herüber. Fidelma schlug vor, falls Eadulf es sich zutraue, sollten sie noch einmal eine Runde um die Mauern des rath machen, bevor sie sich schlafen legten. Eadulf hätte es vorgezogen, gleich zu Bett zu gehen, denn immer noch war ihm ein wenig schwindlig. Doch sein Schuldbewußtsein ließ ihn Fidelmas Vorschlag zustimmen. Wenigstens bestand zwischen ihnen eine Übereinstimmung, die es ihnen erlaubte, auch ohne Worte im Denken so verbunden zu sein, als ob jeder sofort wüßte, was dem anderen durch den Kopf ging.
Vom Gästehaus schlugen sie den Weg zu der Treppe ein, die zu dem Umgang auf der Mauer führte.
Oben an der Treppe bewegte sich ein Schatten. Sie hörten ein verlegenes Kichern, und die schlanke, kleine Gestalt eines jungen Mädchens verschwand in der Dunkelheit. Ein zweiter Schatten erschien, und eine barsche männliche Stimme rief sie an. Als sie sich zu erkennen gaben, tauchte die Gestalt Rudgals im flak-kernden Licht einer brennenden Fackel auf.
»Ihr seid also nicht auf Laisres Fest?« Der Wagen-bauer und zeitweilige Krieger schien durch ihr Auftauchen unangenehm berührt.
»Eins von Laisres Festen reicht mir«, beklagte sich Eadulf.
Rudgals Miene drückte Mitgefühl aus.
»Schlechter Wein«, lautete sein Urteil. »Das kommt zuweilen vor.« Dann wandte er sich an Fidelma und wechselte rasch das Thema. »Ich hörte von Artgal, daß auf der Ebene, wo ihr die Leichen entdeckt habt, nichts mehr zu finden war, jedenfalls nichts, was erklären würde, wie es zu dem schrecklichen Vorfall kam.«
Fidelma lehnte an den Zinnen und schaute hinaus in das abendliche Dunkel.
»Du bist Christ, Rudgal. Was hältst du von dieser Mordtat?«
Rudgal hüstelte nervös und sah sich um. Er senkte verschwörerisch die Stimme.
»Wie du sagst, Schwester, ich gehöre dem Glauben an. Das Leben war schwierig für diejenigen von uns, die in Gleann Geis diesen Weg gehen. Dann wurde es offenbar, daß wir zu einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung in diesem Tal geworden sind, und wir drängten den Fürsten und seine Versammlung, unsere Existenz anzuerkennen. Jahrelang wurden wir von ihm und seinem Rat abgewiesen. Dann schien ihm plötzlich eine Erleuchtung gekommen zu sein, denn er überstimmte seinen Rat und sandte eine Botschaft nach Cashel. Ich hätte nie gedacht, daß ich das noch erlebe. Es gibt aber nach wie vor viele hier, die den alten Bräuchen anhängen. Ich sage nur eins zu dieser Angelegenheit ...« Er hielt inne. »Zu diesem Ritualmord, wie ihr es nennt. Es gibt viele Leute, die es gern sehen würden, wenn die Anhänger des Glaubens entmutigt werden und die alten Bräuche sich wieder durchsetzen.«