Fidelma versuchte, in der Dunkelheit in Rudgals Miene zu lesen.
»Meinst du, die Tat wurde begangen, um die christliche Gemeinschaft hier einzuschüchtern?«
»Wozu sonst? Sie dient keinem anderen Zweck.«
»Aber wer waren die Opfer? Laisre sagt, in Gleann Geis werde niemand vermißt.«
»Das stimmt. Wir würden es bald merken, wenn einer aus unserem Volk fehlte. Vielleicht waren die Opfer Reisende, die abgefangen und niedergemacht wurden? Wer hat sie umgebracht? Ich denke, die Antwort liegt nicht weit von dem Ort, von dem das Lachen herüberschallt.«
Gerade hatte sich in der Festhalle brüllendes Gelächter erhoben.
»Wen beschuldigst du? Laisre? Oder Murgal?« forschte Eadulf. »Oder gibt es noch jemand anderen?«
Rudgal sah Eadulf kurz an.
»Es steht mir nicht zu, mit dem Finger auf jemanden zu zeigen. Frag dich nur selbst: Wessen Interessen dient diese Tat? Laisre war derjenige, der gegen den Willen seines Rats dem Glauben etwas Freiheit gewähren wollte. Bedenke, wer sich gegen Laisre stellt. Mehr kann ich nicht sagen. Gute Nacht.«
Rudgal verschwand in der Dunkelheit.
»Es liegt eine gewisse Logik in dem, was er sagt«, meinte Eadulf nach kurzem Schweigen.
»Cui bono? >Wem nutzt das?< lautet eine alte Rechtsfrage. Cicero stellte sie einem Richter im alten Rom. Sie ist logisch, aber ist sie nicht zu logisch?«
Eadulf schüttelte verwirrt den Kopf.
»Das ist mir zu spitzfindig. Logik ist doch die Kunst, der Wahrheit zum Sieg zu verhelfen?«
»Aber die Logik kann oft auch die Wahrheit vor uns verbergen. Die Logik hemmt oft das Schöpferische des Verstandes, so daß wir einen geraden Weg entlanglaufen, während die Antworten auf unsere Fragen im Schatten der Waldlichtungen neben dem Weg liegen. Logik allein engt uns ein.«
»Denkst du, daß es noch eine andere Erklärung gibt?«
»Eins fällt mir auf: Wenn die Mordtat nur verübt wurde, um die Christen von Gleann Geis einzuschüchtern und niederzuhalten, warum hat man dann nicht ein paar Christen aus diesem Tal umgebracht? Warum vollzieht man das Ritual in dem Tal da draußen und benutzt die Leichen von Fremden? Warum verleiht man der Drohung nicht noch mehr Gewicht? Wie du siehst, hat die logische Deduktion ihre Schwächen.«
»Nun, dieselben Erkenntnisse immer wieder hin und her wenden, ohne etwas Neues hinzuzufügen, macht den Geist stumpf«, bemerkte Eadulf.
Fidelma lachte.
»Manchmal brauche ich deine Weisheit, Eadulf«, sagte sie. »Vollenden wir unseren Rundgang und gehen dann schlafen.«
Eadulf zögerte.
»Vielleicht will uns Rudgal auf eine falsche Fährte locken? Mit wem war er vorhin hier oben im Komplott?«
»Komplott ist kaum der richtige Ausdruck«, erwiderte Fidelma belustigt. »Selbst du mußt doch Orlas Tochter erkannt haben.«
Sie gingen rund um die Mauern und die Treppe wieder hinunter. Sie überquerten den Hof und lauschten den Geräuschen des Festes und der Musik, die aus der Festhalle drangen. Plötzlich trat Stille ein, und man hörte deutlich eine zornige Stimme und das Zuschlagen einer Tür. Fidelma zog Eadulf am Ärmel in den Schatten eines Gebäudes.
»Was ist?« flüsterte der Angelsachse verblüfft.
Fidelma schüttelte den Kopf und legte den Finger an die Lippen.
Auf der anderen Seite des Hofes öffnete sich die Tür des Gebäudes, in dem sich Murgals Wohnung und die Bibliothek befanden, und es war unverkennbar die untersetzte Gestalt Bruder Solins, die heraustrat und die Tür wieder zuschlug. Er hielt sich eine Wange, als schmerze sie ihn. Einen Moment blieb er im Lichtkreis der Öllampe über der Tür stehen, die sein zornerfülltes Gesicht beleuchtete. Er schaute sich um und prüfte, ob ihn jemand beobachtete. Seine Haltung verriet Anspannung und Ärger. Dann ordnete er seine Kleidung und fuhr sich durch sein zerzaustes Haar. Er reckte die Schultern und schritt zielbewußt über den Hof zur Festhalle.
Fidelma und Eadulf hatten sich tief in den Schatten gedrückt, so daß Bruder Solin sie nicht bemerkte. Sie warteten schweigend, bis er im Haus des Fürsten verschwunden war.
Eadulf schnitt eine Grimasse.
»Es war nur dieser eingebildete Trottel«, meinte er. »Vor dem hätten wir uns nicht zu verstecken brauchen.«
Fidelma seufzte leise.
»Manchmal erfährst du etwas, wenn jemand nicht ahnt, daß du da bist.«
»Nämlich?«
»Zum Beispiel stand Bruder Solin dort im Licht der Lampe. Was hast du bemerkt?«
»Daß er zornig war.«
»Stimmt. Was noch?«
Eadulf dachte einen Moment nach. »Sonst nichts, meine ich.«
»Ach, Eadulf! Ist dir nicht aufgefallen, daß anscheinend jemand Bruder Solin kräftig ins Gesicht geschlagen hatte? Hast du nicht den kleinen Blutfleck im Mundwinkel gesehen?«
Eadulf verneinte es.
»Und wenn das so ist, was sagt uns das?« wollte er wissen.
»Vorhin hatte Bruder Solin eine blutige Nase. Ich denke, jemand hatte ihn darauf geschlagen. Das sagt uns, daß jemand hier Bruder Solin aus Armagh nicht mag.«
Eadulf brach in ein spöttisches Gelächter aus.
»Das hätte ich dir auch so sagen können. Ich zum Beispiel mag ihn nicht.«
Fidelma schaute Eadulf belustigt an.
»Wohl wahr. Aber du bist nicht so weit gegangen, unseren frommen Kleriker tätlich anzugreifen. Zweimal hat er geblutet. Man hat ihm Wein ins Gesicht geschüttet. Schauen wir mal, ob wir den finden können, der das getan hat.«
Sie ging voran über den Hof zu der Tür, aus der Bruder Solin gekommen war. Sie wollte sie gerade öffnen, als sie aufflog und Orla heraustrat. Sie blieb verblüfft stehen.
»Was macht ihr denn hier?« fragte sie unfreundlich.
»Wir haben uns anscheinend verlaufen«, antwortete Fidelma gelassen. »Wohin führt diese Tür?«
Laisres Schwester sah sie finster an.
»Jedenfalls nicht ins Gästehaus, das ist sicher«, erwiderte sie. »Den Weg dahin konntet ihr kaum verfehlen. Man sieht es von hier.«
Fidelma wandte sich um und heuchelte Überraschung.
»Tatsächlich.« Unbeeindruckt fuhr sie fort: »Sag mal, hast du Bruder Solin gesehen? Ich möchte ihn sprechen.«
Orla warf verärgert den Kopf zurück.
»Ich habe ihn nicht gesehen. Ich will ihn auch nicht sehen. Ich habe dir schon heute nachmittag gesagt, daß mir dieses Schwein nicht zu nahe kommen soll. Wenn ihr mir jetzt Platz machen würdet ...?« »Wohnst du hier?« Mit dem vagen Gefühl, er müsse auch etwas sagen, versuchte Eadulf sie aufzuhalten.
Orla ignorierte seine Frage einfach.
»Ich habe zu tun, im Gegensatz zu euch«, sagte sie, drängte sich an ihnen vorbei und lief zur Festhalle.
Fidelma und Eadulf warteten, bis sie fort war.
»Sie muß Bruder Solin gesehen haben«, vermutete Eadulf.
»Vielleicht.«
»Aber sie kamen doch beide aus dieser Tür.«
»Sicher, doch die Tür führt in ein großes Gebäude mit mehreren Wohnungen, darunter auch Murgals. Außerdem befindet sich hier auch die Apotheke.«
Sie traten durch die offene Tür und standen in einem schwach erleuchteten Flur, in dem eine Öllampe tanzende Schatten warf. Die Türen an der einen Seite führten vermutlich in Wohnungen. Fidelma schaute hinüber zu der Treppe, die sie am Nachmittag mit Laisre zur Bibliothek hinaufgestiegen war.
Sie wollte schon vorschlagen, umzukehren, als von dort Schritte zu hören waren. Laisre bog plötzlich um die Ecke. Als er sie erblickte, blieb er überrascht stehen.
»Sucht ihr mich?« begrüßte er sie. Er hatte sich schnell gefaßt. »Oder braucht ihr noch mehr Bücher?«