»Sollte es hier eine solche Sammlung von Gesetzbüchern geben?« fragte Eadulf zweifelnd. »Murgal ist Heide.«
Trotz ihrer Lage mußte Fidelma leise lachen.
»Heiden oder Christen, wir sind ein gebildetes Volk, Eadulf. Die Druiden schrieben Bücher, lange bevor Patrick kam und das lateinische Alphabet übernommen wurde. Verehrten wir nicht Ogma, den Gott der Gelehrsamkeit und der Schrift, nach dem unser erstes Alphabet benannt wurde? Und das Gesetz war Gesetz schon ganze Zeitalter, bevor der neue Glaube auf diese Insel gelangte.«
Eadulf verzog mißbilligend den Mund.
»Schlägst du vor, daß ich Murgal frage, ob er solche Gesetzbücher hat?«
»Heide oder Christ, Berater Laisres oder nicht, Murgal ist Brehon und hat geschworen, getreu dem Gesetz zu handeln.«
Eadulf schüttelte zweifelnd den Kopf.
»Wenn er es also erlaubt, nach welchem Buch sollte ich suchen?«
»Als erstes mußt du den Text mit dem Titel Coic Conara Fugill studieren, das heißt >Fünf Wege zum Urteil<. Schau dir ferner das Berrad Airechta an. Ich meine, in diesen beiden Werken findest du die notwendigen Verfahren für meinen Fall. Mach dich mit der Verfahrensweise vertraut und suche den Weg, der nach dem Gesetz zu meiner Freilassung führt.«
»Ich muß dich daran erinnern, Fidelma, daß ich nicht das Recht dieses Landes studiert habe«, wandte Eadulf ein. »Ich habe Theologie studiert und Medizin.«
»Du hast mir oft erzählt, daß du in deinem Land von deinem Vater das Amt des Friedensrichters geerbt hattest, Eadulf. Jetzt ist es an der Zeit, daß du dein Talent nutzt. Du kennst meine Methoden und hast mich oftmals vor den Gerichten plädieren hören. Halte dich an die >Fünf Wege zum Urteil< und sieh dir das Bürgschaftsgesetz arach an. Ich verlasse mich auf dich, Eadulf.«
Eadulf erhob sich unsicher.
»Ich werde versuchen, dein Vertrauen nicht zu enttäuschen.«
Er streckte beide Arme aus und faßte sie sanft an den Schultern. Ihre Blicke begegneten sich, und dann wandte sich Eadulf mit leicht geröteten Wangen zur Tür um. Die öffnete sich sofort, als habe Rudgal dahinter gestanden und gewartet. Er trat beiseite und ließ Eadulf vorbei.
Darauf trug Rudgal ein Holzbett in die Zelle. Anschließend brachte er Decken und einen Krug Wasser herein. Der Krieger und Wagenbauer schaute besorgt drein.
»Der angelsächsische Bruder sieht etwas gedankenverloren aus, Schwester Fidelma«, murmelte er, während er das Bett an die richtige Stelle schob. Bevor sie antworten konnte, fügte er hinzu: »Das wird dir den Aufenthalt hier ein bißchen erleichtern, hoffe ich.«
»Mir zuliebe, Rudgal, oder auch dem Glauben zuliebe, würdest du bitte ein wachsames Auge auf Bruder Eadulf haben? Er wird vielleicht Hilfe brauchen. Hilf ihm so, wie du mir helfen würdest.«
»Das werde ich tun, Schwester Fidelma. Das kannst du mir überlassen.«
Ohne ein weiteres Wort setzte sich Fidelma auf die Bank und sammelte sich für das dercad. Sie hörte schon nicht mehr, wie Rudgal ging und die Tür ins Schloß fiel.
Es waren noch mehrere Stunden bis zum Morgengrauen, und Eadulf begriff, daß er bis dahin warten mußte, ehe er Murgal um Erlaubnis bitten konnte, seine Bibliothek benutzen zu dürfen. Wahrscheinlich war Murgal nach den Aufregungen der Nacht gerade erst zu Bett gegangen. Eadulf wußte, wenn er Fidelma helfen wollte, mußte er hellwach sein. Zwei Nächte hatte er nicht gut geschlafen, deshalb beschloß er, sich noch ein oder zwei Stunden ins Bett zu legen. Trotz seiner Gemütsverfassung hatte er sich kaum ausgestreckt, als er schon tief schlief.
Er erwachte von Geräuschen, die aus dem Haupt-raum des Gästehauses zu ihm drangen. Einen Moment konnte sich Eadulf nicht an die Geschehnisse der vergangenen Nacht erinnern. Dann brachen sie wie eine Sturzflut über ihn herein. Er erhob sich und ging hinunter.
Cruinn war da und starrte ihn feindselig an, als sie ihn erblickte. Der junge Mönch, Bruder Dianach, saß traurig und bekümmert in einer Ecke. Sobald er Ea-dulf bemerkte, machte er ein zorniges Gesicht. Es war klar, daß der Tod Bruder Solins und die Verhaftung Fidelmas heute morgen die Gespräche im rath beherrschten.
»Warum hat sie das getan?« Bruder Dianachs anklagende Worte trafen Eadulf wie ein Peitschenhieb. Der junge Mann stand auf, als wolle er auf Eadulf losgehen. »Hat sie ihn derart gehaßt?«
Eadulf blieb am Fuße der Treppe stehen und blickte Bruder Dianach mitfühlend an.
»Schwester Fidelma hat Bruder Solin nicht getötet«, erwiderte er ruhig.
Cruinn murmelte in unterdrücktem Zorn etwas vor sich hin. Die rundliche Frau wirkte jetzt nicht mehr fröhlich, sie hatte sich in eine wütende Hexe verwandelt.
Eadulf schaute vom einen zum anderen und zuckte die Achseln. Er merkte, daß beide nicht gewillt waren, sich Fidelmas Seite der Geschichte anzuhören. Er wandte sich ab und ging in den Baderaum. Als er seine Toilette beendet hatte, war von Cruinn und Bruder Dianach nichts mehr zu sehen. Er begab sich hinauf in sein Zimmer und zog sich an. Als er zurückkam, stellte er fest, daß Cruinn ihm kein Frühstück hingestellt hatte. Das war anscheinend ihre Art des Protests. Ea-dulf seufzte und suchte sich etwas zu essen.
Nach einem bescheidenen Mahl aus trockenem Brot, kaltem Fleisch und Met unternahm er seinen ersten Vorstoß. Vor dem Gebäude, das Fidelma ihm als Ort der Bibliothek Murgals gezeigt hatte, begegnete er zuerst der hübschen Apothekerin Marga. Nach dem, was ihm Fidelma über ihren Ausbruch berichtet hatte, als sie erfahren hatte, daß er sich in der Kräutermedizin auskannte, erwartete er, daß sie ihn nicht beachten würde, doch sie blieb vor ihm stehen.
»Ich kann nicht behaupten, daß es mir leid tut«, erklärte sie ohne Vorrede. Offenkundig hatte auch sie die Neuigkeit vernommen. »Weder für Solin, dieses Schwein, noch für deine christliche Freundin. Sie haben es verdient, miteinander in die Andere Welt zu fahren. Ich kann verstehen, daß jede Frau, die Solin begegnet ist, den Wunsch hat, ihm das Leben zu nehmen.«
Eadulf blieb standhaft.
»Das mag deine Meinung sein, Marga. Aber Fidelmahat Bruder Solin nicht getötet.«
Die Augen der jungen Frau verrieten ihren Unglauben.
»So? Und das willst du beweisen?«
»Das werde ich beweisen«, verbesserte er sie. »Ich werde die Wahrheit herausbekommen.«
Marga verzog höhnisch das Gesicht.
»Ach ja. Da du gerade von Wahrheit redest - ich habe dir die Fingerhutblätter geschenkt, weil ich dachte, ich helfe jemandem, der keine Ahnung von Medizin hat. Da du mich belogen hast, schuldest du mir jetzt etwas dafür. Du siehst, ich lege Wert auf Wahrheit, Angelsachse. Ich denke, unser Brehon wird auch wissen wollen, welchen Wert du der Wahrheit beimißt.«
Eadulf errötete. Er holte einen screpall aus seiner Börse und hielt ihn ihr hin.
»Nimm ihn und laß es dir damit gut gehen«, sagte er kurz.
Marga nahm die Münze, prüfte sie und ließ sie dann mit Bedacht fallen. Sie lächelte verächtlich. Anscheinend erwartete sie, daß sich Eadulf hastig danach bük-ken würde. Eadulf starrte ihr einen Moment in die kalten Augen und ging dann in das Gebäude.
Er hatte keine leichte Aufgabe vor sich, denn offenbar hatten die Leute im rath Laisres alle schon vor der Verhandlung entschieden, daß Fidelma schuldig wäre.
Er machte sich auf den Weg nach oben in den Turm, wo nach Fidelmas Auskunft Murgals Wohnung und Bibliothek lagen. Doch dort gab es mehrere Türen. Er zögerte und überlegte, was er tun sollte.
»Ach, der Angelsachse! Was machst du denn hier?«
Eadulf schaute in das kokette Gesicht von Esnad, der Tochter Orlas. Sie stand in der Tür einer Wohnung, gegen den Pfosten gelehnt, und betrachtete ihn mit einem verführerischen Lächeln.