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Rudgal bückte sich und hob die Gesetzbücher auf.

»Das war knapp, Bruder. Solche Unfälle können gefährlich sein.«

Eadulf kniff die Augen zusammen.

»Das war ein Unfall, meinst du?«

»Meinst du das nicht?« fragte Rudgal harmlos.

»Manche der Steinblöcke auf den Zinnen sind schlecht eingefügt und ziemlich lose.«

»Da oben auf den Zinnen war jemand, der diesem speziellen Stein etwas nachgeholfen hat.«

Rudgal war entsetzt.

»Bist du sicher, Bruder? Hast du jemanden erkannt?«

»Ich konnte niemanden erkennen«, gab Eadulf zu. »Aber du warst doch oben auf den Zinnen. Du mußt gesehen haben, wer es war.«

Rudgal schüttelte den Kopf.

»Da waren ein paar Leute unterwegs. Ich ging oben entlang und hörte deinen Schrei. Als ich hinunterblickte, sah ich dich und den Stein vor deinen Füßen. Du schienst erschrocken. Ich hab niemanden bemerkt .«

Er verstummte und dachte nach.

»Was hast du gesehen?« fragte Eadulf rasch.

»Wahrscheinlich nichts. Da war der junge Bruder, wie heißt er gleich - Dianach? Ja, ich sah ihn in die andere Richtung gehen mit Esnad, und dann war Artgal in der Nähe mit Laisre, der mit ihm sprach. Vielleicht ist ihnen etwas aufgefallen, doch glaube ich eher nicht, denn sonst wären sie gekommen, um nachzuschauen, was passiert ist. Anscheinend hat niemand weiter deinen Schrei gehört.«

»Ich glaube nicht, daß uns das sehr weit bringt«, überlegte Eadulf laut und nahm Rudgal die Bücher ab. »Artgal ist der Hauptzeuge gegen Fidelma, und Bruder Dianach hat heute morgen sehr deutlich gemacht, daß er mich nicht mag. Nein, reden wir nicht mehr darüber.«

Er ließ Rudgal stehen und ging weiter zum Gästehaus. Drinnen legte er die Bücher sorgfältig auf den Tisch und setzte sich davor. Er gähnte und wünschte, er hätte etwas länger schlafen können. Dann dachte er an Fidelma in ihrer Zelle und empfand Reue, denn sie würde, wohl allein an diesem unfreundlichen Ort, kaum Schlaf finden. Auch das Gästehaus war nun verlassen. Weder Cruinn noch Bruder Dianach waren zurückgekehrt. Es war klar, daß sie ihn mieden.

Langsam schlug er Seite um Seite der Gesetzestexte um.

Die Zeit verging, die Zeichen auf den Seiten wurden lebendig, sie verwirrten sich und verschwammen vor seinen Augen. Er schien unfähig, die einfachsten Begriffe zu verstehen. Seine Augenlider wurden immer schwerer, und sein Kopf sank herab.

Er mußte wohl eingeschlafen sein.

Plötzlich vernahm er ein Geräusch an der Tür.

Eadulf fuhr von dem Manuskript hoch, blinzelte und wußte für einen Augenblick nicht, wo er sich befand.

Da erblickte er Rudgal auf der Schwelle.

»Was ist?« fragte Eadulf, gähnte und schämte sich, weil er eingeschlafen war. Er schob das Gesetzbuch beiseite.

»Ich komme mit einer Botschaft von Murgal, Bruder. Es geht um die Anhörung, die du beantragt hast.«

»Und?« Eadulf war nun hellwach und erhob sich. »Wird er mir morgen eine Anhörung gewähren?«

»Murgal sagt, dir steht das Recht zu, solch eine Anhörung vor ihm als dem Brehon von Gleann Geis zu verlangen. Ich soll ihm die Bücher wiederbringen - er meinte, du weißt, welche Bücher das sind. Und wenn du ihm durch mich versichern kannst, daß du das gesetzlich vorgeschriebene Verfahren einhalten kannst, dann wird er eine solche Anhörung zulassen. Aber die Anhörung muß im Ratssaal des Fürsten heute nachmittag noch vor dem Abendessen stattfinden.«

Eadulf erschrak.

»Wie spät ist es jetzt?« fragte er und fühlte sich, als spiele Murgal Katz und Maus mit ihm.

»Fast eine Stunde nach dem Mittagessen.«

»Das heißt, ich habe nur ein paar Stunden, um mich darauf vorzubereiten.« Er bemühte sich, die in ihm aufsteigende Panik zu unterdrücken. Rudgal beobachtete ihn mit ausdrucksloser Miene.

»Murgal sagt, wenn du nicht in der Lage bist, deinen Antrag heute nachmittag zu stellen, hast du das entsprechende Gesetz nicht verstanden.«

Eadulf fuhr sich verzweifelt durchs Haar.

»Wenigstens ist Murgal bereit, die Anhörung abzuhalten«, räumte er ein. »Du mußt ihm sagen, daß ich die Bücher noch etwa eine Stunde brauche. Ich gebe sie ihm später zurück.«

Besorgt blickte er auf das Gesetzbuch, das offen auf dem Tisch lag.

»Anscheinend besteht meine einzige Hoffnung darin, daß er Schwester Fidelmas Eid als Bürgschaft anerkennt und ihren Rang und ihre Stellung als Eog-hanacht-Prinzessin dabei berücksichtigt. Vielleicht läßt er sie ja daraufhin bis zur Gerichtsverhandlung frei.«

Rudgal lächelte freudig.

»Es wäre gut für Schwester Fidelma, wenn sie aus der Einzelhaftkammer herauskäme, Bruder. Es gehört sich nicht, daß jemand wie sie dort eingekerkert ist.«

»Ich wünschte, ich hätte größere Zuversicht, was das Ergebnis der Anhörung betrifft.«

Rudgal kniff die Augen zusammen.

»Du glaubst nicht, daß du rechtskundig genug bist, um Schwester Fidelma die Freiheit zu verschaffen?« fragte er. Er wies auf die Bücher auf dem Tisch. »Was sagen dir die Bücher, was du tun sollst?«

Eadulf lachte schmerzlich.

»Sie sagen mir, daß meine Kenntnis der Gesetze gering ist und daß das wenige, was ich weiß, nicht ausreicht, um ihre Freilassung zu sichern.«

»Aber irgend etwas kannst du doch tun?«

»Außer, daß Murgal Schwester Fidelmas Eid als Schwester des Königs von Cashel als Bürgschaft für ihr Erscheinen zur Gerichtsverhandlung anerkennt, gibt es nur noch eine Möglichkeit.«

»Welche ist das?« erkundigte sich Rudgal.

»Ich müßte beweisen können, daß Artgal als Zeuge nicht glaubwürdig ist.«

Rudgal rieb sich nachdenklich das Kinn.

»Er ist ehrgeizig. Ein erstklassiger Grobschmied und ein guter Krieger, das weiß ich.«

»Möglicherweise hat er irgendein Geheimnis. Hat er vielleicht einen Kameraden in der Schlacht im Stich gelassen?«

Rudgal lachte.

»Such dir etwas anderes, Bruder. Wir haben im vorigen Jahr gemeinsam gekämpft, Seite an Seite, am Berg Äine gegen die Arada Cliach. Er bewies seine Tapferkeit in der Schlacht.«

Eadulf starrte ihn überrascht an.

»Ihr habt dort gegen die Arada Cliach gekämpft? Aber das bedeutet doch, daß ihr gegen das Heer des Königs von Cashel gefochten habt?«

Rudgal schob das mit einem grimmigen Lächeln beiseite.

»Wir gehorchten dem Ruf unseres Fürsten Laisre, der seinerseits Eoganan von den Ui Fidgente diente. Doch jetzt ist Eoganan tot, und es herrscht wieder Frieden zwischen den Ui Fidgente und Cashel. Deshalb herrscht auch Frieden zwischen Laisre und Cashel. Aber Artgals Ehrgeiz gilt nicht dem Krieg. Das weiß ich, denn er hat gesagt, sein Ehrgeiz werde sich bald im Frieden erfüllen.«

»Also eure interne Politik verstehe ich wirklich nicht«, murrte Eadulf. »Und wenn ich es täte, würde mir das auch nichts helfen. Abgesehen von Artgals Tüchtigkeit als Grobschmied und Krieger, kannst du mir weiter nichts über ihn verraten? Wie war das noch mit Artgals Ehrgeiz?«

»Ehrgeiz ist kein Verbrechen.«

»Aber du hast gesagt, er habe angedeutet, sein Ehrgeiz werde sich erfüllen.«

»Ja, das hat er heute morgen behauptet.«

»Welcher Ehrgeiz?« forschte Eadulf.

»Er will seinen kleinen Bauernhof und seine Schmiede vergrößern und einen Lehrling beschäftigen, damit er sich eine Frau leisten kann. Daran ist doch nichts Verdächtiges.«

»Richtig, das ist harmlos. Wieso ist das sein Ehrgeiz?«

»Er war nicht in der Lage, so viel zu sparen, daß er sich Milchkühe als Grundlage für eine Herde kaufen konnte. Als Schmied hat er nicht viel zu tun, weil Go-ban hier der führende Schmied ist. Die meisten Leute gehen zu ihm, wenn sie anspruchsvolle Arbeit brauchen. Artgals Bauernhof ist arm, und meistens ist er auf der Suche nach Arbeit. Sein Auskommen hat er hauptsächlich durch Laisres Zuwendungen für seinen Dienst in der Leibwache. Doch kürzlich konnte er sich zwei Milchkühe kaufen.«