Fidelma sah Eadulf anerkennend an. Er hatte die Zeit gut genutzt. Allerdings zweifelte sie, ob dieses Gesetz unter den gegebenen ungünstigen Umständen genügen würde, um ihr die Freiheit zu verschaffen.
»Du hast dich gut belesen«, sagte Murgal, ebenfalls voller Anerkennung. »So lautet das Gesetz tatsächlich. Nun erkläre mir, weshalb du meinst, ich sollte es in diesem Fall anwenden.«
Eadulf machte eine nervöse Kopfbewegung.
»Du wirst mich verbessern, wenn ich mich irre?« fragte er.
»Worauf du dich verlassen kannst«, versicherte ihm Murgal mit grimmigem Humor.
»Die Kommentare zu dem Gesetz, so wie ich sie verstehe, besagen, daß der Status und der Ruf des Verdächtigen bei der Entscheidung zu berücksichtigen sind. Will jemand vor diesem Gericht bestreiten, daß Schwester Fidelma hochadligen Status und Rang besitzt, nicht nur durch ihre Abstammung, sondern auch durch ihre Ausbildung als dalaigh?«
Es entstand Bewegung unter den Menschen im Saal.
»Das haben wir nie bestritten«, erwiderte Murgal mit müder Stimme.
»Will jemand vor diesem Gericht die Tatsache in Zweifel ziehen, daß Schwester Fidelma einen untadeligen Ruf besitzt und ihr Name nicht nur in Cashel, sondern auch in den Hallen von Tara mit Hochachtung genannt wird?«
Wieder schallte seine Stimme herausfordernd durch den Raum, und es herrschte Schweigen.
»Niemand bezweifelt das«, bestätigte Murgal.
»Dann müßt ihr nach dem Gesetz einwilligen, wenn Schwester Fidelma den Eid fir testa ablegt, wie ihr ihn nennt, dann müßt ihr ihr Wort als Sicherheit akzeptieren, falls nicht beschworene Beweise gegen sie vorliegen. Daraufhin kann Schwester Fidelma das Gericht auf Grund ihrer eigenen Sicherheitsleistung verlassen.«
Laisre sah Murgal scharf an, eine Augenbraue fragend hochgezogen, doch Murgal schüttelte den Kopf und sagte zu Eadulf: »So lautet das Gesetz. Wie du sagst, können wir ihren Eid akzeptieren, wenn nicht ein beschworener Beweis gegen sie vorliegt. Aber wir haben einen Zeugen, dessen Aussage ihren Eid ungültig macht.«
Fidelma hatte das kommen sehen. Sie hatte genug Fälle erlebt, die vor sachkundigen Brehons verhandelt wurden, und war sich sicher gewesen, daß Murgal wußte, daß eine entsprechende Aussage eines Augenzeugen des Mordes den Eid, auf den sich Eadulf berufen hatte, ungültig machte. Auch wenn der Zeuge oder die Zeugin nur berichtete, was er oder sie gesehen zu haben glaubte, so wurde dadurch die Aussage nicht anfechtbar, falls nicht während der Anhörung bewiesen wurde, daß sie falsch war.
Eadulfs Blicke suchten Artgal, der grinsend im hinteren Teil des Saals stand.
»Dann laß deinen Zeugen vortreten«, forderte Ea-dulf kühl. »Laß ihn aussagen.«
»Er wird in der Verhandlung in neun Tagen aussagen«, erwiderte Murgal scharf. »Jetzt ist nicht die Zeit dafür.«
»Er muß jetzt aussagen!« beharrte Eadulf und erhob die Stimme, um das Gemurmel der Leute zu übertönen. »Heute geht es um die Gültigkeit von Fi-delmas Eid, und wenn sein Zeugnis diesen Eid ungültig macht, dann muß er es jetzt ablegen.«
Murgal schluckte schwer. Er starrte den Angelsachsen mit einer Mischung aus Überraschung und wachsender Bewunderung an. Der hatte einen juristischen Kniff angewendet, um Artgals Aussage zu prüfen, ohne auf die Verhandlung zu warten.
Artgal stolzierte nach vorn, noch bevor Murgal ihn dazu aufforderte.
»Hier bin ich, Angelsachse«, verkündete er prahlerisch, »und ich ändere meine Aussage nicht, auch wenn du noch so angibst und tust, als wärst du ein dalaigh.«
Murgal war das feindselige Auftreten Artgals offensichtlich unangenehm.
»Artgal«, verwarnte er ihn scharf, »der Angelsachse ist fremd in unserem Land. Wir wollen ihm beweisen, daß wir die Gesetze der Gastfreundschaft achten, indem wir ihn achten.«
Artgals Miene blieb höhnisch. Er schwieg.
Eadulf blickte den Brehon dankbar an, dann wandte er sich dem Krieger zu.
»Ich verlange nicht von dir, daß du deine Aussage änderst, Artgal«, begann er ruhig. »Ich betrachte das, was du berichtet hast, als das, was du zu sehen geglaubt hast.«
Mehrere Leute holten überrascht Luft, und selbst Fidelma schaute Eadulf verwundert an und fragte sich, was er mit dieser Taktik bezweckte.
»Warum willst du ihn dann vernehmen?« wollte Murgal wissen und stellte damit die Frage, die sich ihr auch aufgedrängt hatte.
»Entschuldige, Murgal«, - Eadulf bat ihn geradezu -, »ich brauche an dieser Stelle einen Rat zu diesem Gesetz.«
Fidelma war nicht die einzige, die sich fragte, ob Eadulf nicht merkte, welchen Vorteil er damit aus der Hand gab, daß er Artgals Aussage nicht weiter verfolgte und zu erschüttern suchte. Fidelma schien das der einzig logische Weg zu sein.
Murgal räusperte sich vernehmlich.
»Nun, mein Rat lautet, wenn du Artgal nicht vernehmen willst, um ihn zur Änderung seiner Aussage gegen Fidelma zu veranlassen, dann muß er nicht vorgeladen werden, und seine Aussage gegen Fidelma bleibt bestehen. Wenn das so ist, entfällt damit auch dein Antrag auf Freilassung Fidelmas.«
Artgal lachte spöttisch auf und wollte zu seinem Platz zurückgehen.
»Bleib, wo du bist!« rief Eadulf scharf.
Dieser Ton kam so überraschend, daß Artgal verblüfft stehenblieb. Alle Blicke richteten sich auf Ea-dulf, als könne niemand glauben, daß der Bittsteller von eben so hart reden könne. Selbst Fidelma war einen Augenblick verwirrt von seinem strengen Befehlston.
Eadulf wandte sich wieder an Murgal.
»Ich habe meine Frage noch nicht gestellt«, sagte er ruhig, wenn auch ein leichter Vorwurf mitschwang.
Murgal blinzelte überrascht.
»Dann sprich weiter«, forderte er ihn auf.
»Ich weiß nicht viel über die Verfahrensweise bei Gericht, aber ich habe den Text >Fünf Wege zum Ur-teil< zu Rate gezogen. Artgal gilt als ein Zeuge der Art, die ihr fiadü nennt, >einer, der sieht<.«
»Das ist richtig«, bestätigte Murgal.
»Der Text besagt, daß ein solcher Zeuge vernünftig,
ehrlich, gewissenhaft und von gutem Gedächtnis sein muß.«
»Das bin ich alles, Angelsachse«, schaltete sich Artgal ein und entspannte sich lächelnd. »Also, was soll’s?«
Eadulf ignorierte ihn und fuhr fort: »Erklär mir, gelehrter Richter, was bedeutet der gesetzliche Grundsatz im Text, der da lautet: foben inracus accobar?«
Die Frage hörte sich ganz harmlos an, aber plötzlich trat Stille im Saal ein.
»Er bedeutet, daß >Gier die Ehrlichkeit vermindert««, übersetzte Murgal, obgleich jeder ahnte, daß Eadulf das genau wußte.
»Das heißt also, daß eine Person nicht aussagen kann, wenn ihr das einen Vorteil bringt, nicht wahr? Ihr Zeugnis wird dann nicht angenommen wegen dieses gesetzlichen Grundsatzes.«
Die Stille war so tief geworden, daß Fidelma meinte, man könne es hören, wenn ein Sandkorn zu Boden fiele. Sie fragte sich, zu welchem Ziel Eadulf mit seiner Argumentation gelangen wolle. Er hatte sich jetzt Artgal zugewandt, dessen Miene nicht mehr verächtlich war. Sein Gesicht war ernst und etwas blaß geworden.
»Artgal, ziehst du einen Nutzen aus deiner Aussage gegen Fidelma von Cashel?«
Artgal gab keine Antwort. Das Sprechen schien ihm schwerzufallen.
Nach einigen langen Augenblicken sagte Murgal langsam und deutlich: »Zeuge, du mußt antworten -und denke daran, du stehst unter Eid nicht nur als Angehöriger des Clans, sondern auch als ein bevorzugtes Mitglied der Leibwache unseres Fürsten.«