»Ich will nicht mein ganzes Leben an diesem Ort verbringen. Geld kann mir die Freiheit außerhalb von Gleann Geis verschaffen.«
»Das stimmt allerdings. Was hast du vereinbart? Daß du die Kühe versorgen würdest, bis Artgal sie abholen und auf seinen Hof bringen würde?«
Nemon nickte.
»Er sollte sie heute nach dem Melken abholen, jedenfalls zwei davon. Die dritte sollte ich noch eine Woche behalten und sie dann ihm ebenfalls überlas -sen.«
»Du wurdest im voraus bezahlt?«
»Natürlich. Ich bin doch nicht blöd.«
»Das hat auch keiner behauptet, Nemon. Hat Ibor von Muirthemne dir sonst noch Anweisungen gegeben?«
Zum erstenmal sah Nemon verwirrt aus.
»Ibor von Muirthemne? Was hat der damit zu tun?«
»Hat er dir denn nicht die Kühe abgekauft?« fragte Fidelma zögernd.
»Der? Na! Der hat mich ja nicht mal besucht. Der blieb da drüben bei Ronan und seiner Frau. Ich traf ihn auf dem Weg, aber er war an meinen Diensten nicht interessiert. Das war das erstemal, daß mir ein Kaufmann begegnet ist, der weit weg von seiner Heimat war und die Dienste einer Frau nicht annehmen wollte. Warum sollte der mir die Kühe abkaufen?«
Fidelma hatte geduldig das Ende ihrer Rede abgewartet.
»Wenn es nicht Ibor von Muirthemne war, der deine Kühe kaufte, wer war es dann?«
»Der Junge natürlich.«
»Der Junge?«
»Der Junge, wie heißt er doch gleich? Er ist einer von euch - er hat das Haar geschnitten wie dieser Fremde hier. Ich habe ihn mit Solin zusammen gesehen.«
»Bruder Dianach?« fragte Eadulf langsam.
»Dianach, so heißt er«, bestätigte Nemon.
Fidelma starrte sie verblüfft an.
»Wann kam denn Bruder Dianach her und kaufte die Kühe?«
Nemon dachte nach.
»Mitten in der Nacht war es. Na, jedenfalls nicht lange nach Tagesanbruch. Ich schlief fest, als er klopfte. Ich dachte, er wünschte meine Dienste, aber er ging vor Schreck fast in die Luft, als ich das vorschlug. Was ist bloß los mit den Männern, die eurem Gott anhängen? Warum sind sie so kleinlich und so prüde? Sind denn keine richtigen Männer darunter?« Sie hielt inne und lächelte verächtlich. »Na, den Untersetzten, der Solin, den konnte man nicht prüde nennen. Über den kann ich mich in dieser Hinsicht nicht beklagen.«
»Du wolltest uns von Bruder Dianach erzählen«, unterbrach sie Eadulf hastig.
»Von dem jungen Burschen? Der weckte mich früh am Morgen und sagte, er wollte meine drei Milchkühe kaufen. Dann erklärte er mir die Bedingungen. Ein cumal ist schwer zu kriegen, damit kann ich viel anfangen. Außerdem habe ich nie gern Kühe gemolken.«
»Also hat Bruder Dianach die Kühe gekauft. Wie hat er dir das begründet? Hat er einen Grund genannt, weshalb er plötzlich Kühe kaufen und sie Artgal schenken wollte? Ich nehme an, er hat dir gleich gesagt, daß sie für Artgal bestimmt sind?«
»Ja. Artgal ist Ronans Vetter. Ich sehe ihn nur, wenn er beim Glücksspiel gewonnen hat. Als der Junge mir sagte, die Kühe wären für Artgal, dachte ich, er hätte Schulden bei Artgal wegen einer Wette oder so. Mir war das sowieso egal. Der Junge erklärte mir einfach, Artgal würde zwei der Kühe heute später am Tag abholen, die dritte ungefähr in einer Woche. Bald danach kam Artgal zu mir, um sich zu überzeugen, daß ich die Kühe auch hatte. Er gestand mir, daß er zuerst gedacht hatte, der Junge mache einen Scherz mit ihm. Er war überrascht, daß ich wirklich die Kühe hatte, die er geschenkt kriegen sollte. Er sagte, er würde sie im Laufe des Tages abholen, aber seitdem habe ich nichts mehr von ihm gesehen.«
Eadulf verzog vor Ärger den Mund.
»Also wußte Artgal die ganze Zeit, wer in Wirklichkeit sein geheimnisvoller Wohltäter war. Er hat das Gericht angelogen, als er sagte, es wäre nicht Bruder Dianach gewesen.«
»Das ist offensichtlich.« Fidelma blieb gelassen. »Was wichtiger ist, Bruder Dianach hat gelogen. Warum wollte er sichergehen, daß ich eingesperrt oder für schuldig befunden würde?« Sie wandte sich wieder an Nemon. »Hast du Bruder Dianach nach diesem Geschäftsabschluß im Morgengrauen noch einmal gesehen?«
Nemon schüttelte den Kopf.
»Und wann hast du Ibor von Muirthemne zuletzt gesehen?«
»Das war vor ein paar Stunden. Ich sah, wie er drüben auf Ronans Feld sein Pferd sattelte«, erwiderte die Frau. »Er ritt mit seinen beiden Pferden fort. Er jagte davon, als ob die Hunde von Goll von den Fomorii hinter ihm her wären. Dann kam Ronan und suchte nach ihm. Worum geht’s hier eigentlich?«
Draußen war Hufschlag zu hören.
Fidelma blickte zur Tür hinaus.
»Murgal und Rudgal sind da. Eadulf, sag Murgal Bescheid, daß wir hier sind. Ich möchte ihn sprechen, ehe er zu Artgals Hof weiterreitet.«
Eadulf eilte hinaus und hielt die Reiter an, bevor sie vorbei waren.
Nemon war verwundert.
»Was soll das alles? Was bedeutet der ganze Trubel?«
»Bist du sicher, daß du Artgal nicht mehr gesehen hast, seit er heute morgen kam, um sich die Kühe anzuschauen, die ihm Bruder Dianach geschenkt hatte?«
»Das habe ich dir doch schon gesagt. Nun erklär mir, was eigentlich los ist!«
»Artgal scheint verschwunden zu sein.«
Nemon zeigte keine Überraschung.
»Hauptsache, er taucht wieder auf und holt seine Kühe ab.«
»Vielleicht mußt du sie länger behalten, als du gedacht hast. Nicht nur, daß Artgal verschwunden ist, Bruder Dianach ist auf seinem Hof ermordet aufgefunden worden.«
Nemons Miene blieb steinern.
»Na, wenn ich die Kühe behalte«, meinte sie schließlich, nachdem sie einen Moment überlegt hatte, »dann brauche ich jedenfalls das Geld nicht zurückzugeben. Tote treiben keine Forderungen mehr ein.«
Fidelma verschlug diese gefühllose Haltung die Sprache. Sie wußte nicht, was sie weiter sagen sollte, und verließ die Hütte. Draußen sprach Eadulf mit Murgal und Rudgal, beide noch im Sattel.
Murgal drückte Fidelma mit seiner Begrüßung gleich sein Mißfallen aus.
»Du solltest doch den rath nicht verlassen, ehe nicht deine Verhandlungen mit Laisre abgeschlossen sind.«
»Hat man dir gesagt, daß Bruder Dianach tot ist?« fragte sie und ging auf seinen Tadel nicht ein.
»Rudgal brachte mir die Nachricht.«
»Du findest die Leiche auf Artgals Hof. Artgal selbst ist verschwunden. Es war übrigens Bruder Dia-nach, der Artgal die Kühe als Bestechung schenkte, und nicht Ibor von Muirthemne. Deine Pflegetochter Nemon kann das bezeugen. Die Kühe stehen noch dort auf ihrer Wiese, weil Artgal sie nicht abgeholt hat.«
Murgal sah sie mit zusammengekniffenen Augen an.
»Willst du damit behaupten, daß Artgal den jungen Mönch getötet hat?«
»Ich will überhaupt nichts behaupten«, erwiderte Fidelma ernst. »Wie du gerade festgestellt hast, darf ich keine Nachforschungen anstellen, wenn es nach dir und deinem Fürsten geht. Also untersuche du den Fall, wie du willst. Eadulf und ich kehren jetzt zum rath zurück.«
Sie wandten sich von Murgal ab, der vor Wut kochte, und machten sich auf den Weg zum rath.
Offensichtlich hatte Rudgal außer Murgal niemandem erzählt, daß sie Bruder Dianach tot aufgefunden hatten. Es waren nur wenige Leute draußen, doch niemand schien sich für sie zu interessieren, und aus der Halle drang der Lärm des Festes herüber.
Es dunkelte schon, als sie das Gästehaus betraten. Es war niemand da. Fidelma entzündete die Lampen und suchte nach etwas zu essen. Während sie das Abendbrot vorbereitete, saß Eadulf am Tisch, das Kinn in die Hände gestützt.
»Ich verstehe das nicht«, brach er schließlich das Schweigen. »Warum wollte Bruder Dianach eine so hohe Summe an Artgal zahlen, nur damit der seine Behauptung, du hättest Bruder Solin getötet, nicht änderte?«