Fidelma stellte altbackenes Brot und Käse auf den Tisch, mehr hatte sie nicht finden können, und holte einen Krug Met herbei.
»Ich glaube, wir können nur Vermutungen anstellen. Dianach war in alles verwickelt, was Solin plante. Wenn wir wüßten, was das war, würden wir auch wissen, weshalb er soviel riskierte, um sicherzugehen, daß ich eingesperrt oder des Mordes angeklagt würde. Ich meine, es gibt ein notwendiges Verbindungsstück in der Kette der Ereignisse vom Mord an den jungen Männern bis hin zu Dianachs Ermordung. Aber ich weiß nicht einmal, wo diese Kette ihren Anfang hat. Warum wollte Dianach mich so sehr schädigen?«
Eadulf schnitt sich eine Scheibe Käse ab.
»Vergeltung? Er glaubte, du hättest Bruder Solin umgebracht. Vielleicht hing er gefühlsmäßig so stark an Solin, daß er Rache wollte?«
Sie schüttelte entschieden den Kopf.
»Nein. Das ergibt keinen Sinn. Dann hätte er das Ergebnis der Anhörung abgewartet. Warum sollte er einen ganzen cumal als Bestechungsgeld zahlen, wenn es gar nicht nötig war? Artgal war sowieso bereit, auch unter Eid gegen mich auszusagen.«
Eadulf verzog zweifelnd das Gesicht.
»Das weiß ich nicht.«
Fidelma blieb bei ihrer Meinung.
»Ich habe mir überlegt, was wir tun müssen«, verkündete sie. »Es ist zu wichtig, als daß wir bis nach den Verhandlungen damit warten dürften. Ibor von Muirthemne bildet ein Glied in der Kette. Wenn wir ihn finden, sind wir auf dem Weg zu einer Lösung. Zu Ibor gelangen wir, wenn wir die Spuren verfolgen, die vom Ort des rituellen Massakers ausgehen, da bin ich ganz sicher.«
»Was machen wir also?«
»Wir brechen morgen früh vor Tagesanbruch auf, wenn alles noch schläft, und reiten zum Tatort.«
»Laisre wird darüber nicht glücklich sein«, sagte Eadulf seufzend.
»Es ist besser für ihn, wenn er unglücklich ist und die ganze Sache aufgeklärt wird, damit es kein böses Blut zwischen Cashel und Gleann Geis gibt«, erwiderte Fidelma mit Bestimmtheit. »Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr glaube ich, daß die Lösung dieses Rätsels für Cashel wichtiger ist als Laisres Zustimmung zur Errichtung einer Kirche und einer Schule hier im Tal.«
Eadulf machte eine unsichere Bewegung.
»Wichtiger als die Bekehrung dieser Ecke des Königreichs zum wahren Glauben?« zweifelte er. »Segdae von Imleach wird dir darin wohl kaum zustimmen?«
Fidelma schüttelte den Kopf.
»Ich fürchte, die Lösung schließt alles ein, was hier geschehen ist. Solin war, seinen eigenen Worten nach, in etwas verwickelt, was den Sturz Cashels noch vor Ende des Sommers herbeiführen sollte. Mein Eid gegenüber meinem Bruder und den Gesetzen dieses Landes verbieten es mir, eine solche Drohung unbeachtet zu lassen.«
Jemand klopfte an die Tür, und bevor einer von ihnen antworten konnte, wurde die Tür geöffnet, und Orlas Tochter trat ein. Sie trug einen Korb am Arm. Als sie Fidelma erblickte, verdüsterte sich ihre Miene für einen Moment, doch ihre Augen leuchteten auf, sobald sie sich auf Eadulf richteten.
»Ich wußte, daß Cruinn nicht hier ist«, sagte sie mit dunkler Stimme, »deshalb komme ich, um euch etwas zum Abendbrot zu bringen.« Sie schaute Fidelma kurz an und fügte hinzu: »Euch beiden.«
Eadulf erhob sich und blickte auf das altbackene Brot und den Käse, die er zu verzehren gedachte. Er lächelte.
»Es ist uns sehr willkommen, Esnad.«
Das Mädchen stellte den Korb auf den Tisch und packte frisches Brot, kaltes Fleisch, gekochte Eier und Gemüse aus. Sogar einen Henkelkrug mit Wein hatte sie mitgebracht.
»Wissen deine Mutter und dein Vater, daß du hier bist?« erkundigte sich Fidelma.
Esnad hob trotzig das Kinn.
»Ich habe das Alter der Wahl erreicht«, erwiderte sie gereizt. »Ich bin schon vierzehn.«
»Aber deine Eltern könnten es dir übelnehmen, wenn du dich mit uns einläßt nach dem, was vorgefallen ist.«
»Sollen sie doch«, erklärte das Mädchen wegwerfend. »Mir macht das nichts aus. Ich bin alt genug, für mich selbst zu entscheiden.«
»Dem kann man nicht widersprechen«, meinte Fidelma.
Das Mädchen hatte den Korb geleert. Nun war genug da für ein annehmbares Abendessen.
Es war offensichtlich, daß sich Esnad in Fidelmas Gegenwart gehemmt fühlte und daß sie anscheinend mit Eadulf allein sprechen wollte. Das reizte Fidelmas Neugier, und zugleich amüsierte es sie, daß Eadulf durch Esnads Aufmerksamkeiten in Verlegenheit geriet. Trotzdem hoffte sie, Eadulf würde merken, daß Esnad mit ihm reden wollte.
Sie erhob sich lächelnd.
»Ich habe Murgal versprochen, etwas mit ihm zu bereden«, sagte sie mit einem bedeutungsvollen Blick zu Eadulf.
Der Angelsachse sah sehr beunruhigt aus, begriff aber wohl, daß er bleiben und herausbekommen sollte, was Esnad von ihm wollte.
Esnad war sichtlich erfreut.
»Ich hoffe, ich störe euch nicht in euren Plänen«, meinte sie kokett.
»Überhaupt nicht«, antwortete Fidelma. »Ich bin bald zurück, also hebt mir etwas von diesem ausgezeichneten Abendbrot auf.«
Sie verließ das Gästehaus und trat auf den Hof hinaus, auf dem es bereits zu dunkeln begann.
Einige Augenblicke wanderte sie ziellos umher und überlegte, ob Esnad etwas zur Aufklärung der geheimnisvollen Vorfälle in Gleann Geis beitragen könnte. Dann nahm sie denselben Weg, auf dem sie in der vorigen Nacht Bruder Solin gefolgt war. Sie war noch nicht weit gekommen, als sie sah, wie eine rundliche Frauengestalt das Gebäude verließ, in dem sich Murgals Wohnung befand. Sie eilte über den Hof. Die Gestalt war unverkennbar. Fidelma beschleunigte ihren Schritt.
»Cruinn!«
Die Verwalterin blieb stehen und blickte sich um. Als sie Fidelma erkannte, wollte sie weitergehen, doch Fidelma vertrat ihr den Weg.
»Cruinn, warum kommst du nicht ins Gästehaus?« fragte Fidelma vorwurfsvoll. »Warum bist du derart wütend auf mich?«
Cruinn schaute sie finster an.
»Du solltest die Gesetze der Gastfreundschaft kennen, du bist doch eine dalaigh. Du hast deinen Gastgeber beleidigt, weil du seine Schwester beleidigt hast.«
»Das ist ungerecht«, erklärte Fidelma. »Ich weiß, daß Orla hier sehr geachtet ist, aber ich konnte nur die Wahrheit sagen. Ich wurde selbst zu Unrecht beschuldigt.«
»Du bist der Gerechtigkeit nur durch eine geschickte Auslegung des Gesetzes entgangen«, entgeg-nete Cruinn scharf, sehr zu Fidelmas Erstaunen.
»Du scheinst auf einmal viel vom Gesetz zu verstehen, Cruinn«, erwiderte sie. »Wo hast du das gelernt?«
Selbst im Dämmerlicht sah Fidelma, daß Cruinn einen Moment verlegen wurde.
»Ich wiederhole nur, was alle sagen. Wäre Artgal nicht so töricht gewesen, die Kühe anzunehmen, hätte sich seine Aussage beweisen lassen.«
»Ich habe Bruder Solin nicht getötet.«
Cruinn wandte sich rasch ab.
»Ich habe viel zu tun«, murmelte sie. »Aber im Gästehaus brauchst du nicht auf mich zu warten. Es gibt nur wenige Leute, die deine Anwesenheit hier gutheißen, Fidelma von Cashel. Je eher du Gleann Geis verläßt, desto besser.«
Cruinn eilte davon in die Dunkelheit. Fidelma sah ihr nach. Es war entmutigend, wie schnell manche Leute aufgrund von falschen Informationen und Vorurteilen ihre Haltung änderten.
Eine Tür öffnete sich, und ein Lichtschein fiel auf den Hof, er kam aus Margas Apotheke. Zwei Personen standen in der Tür, Marga und Laisre. Der Lichtschein erfaßte Fidelma. Laisre erstarrte, als er sie bemerkte. Dann verbeugte er sich vor Marga.
»Vielen Dank, Marga. Wie oft muß ich den Aufguß trinken?«
»Nur einmal abends, Laisre.«
Die hübsche Apothekerin ging ins Haus und schloß die Tür, so daß kein Licht mehr den Hof erhellte.
Laisre kam auf Fidelma zu.
»Nun, Fidelma von Cashel«, begrüßte er sie kühl, »ich habe gerade von Murgal gehört, daß du dich meinem Befehl widersetzt und vorhin den rath verlassen hast.«