»Es war kein Befehl, wenn ich mich recht erinnere. Du sagtest nur, es wäre dein Wunsch«, erwiderte Fidelmatrocken.
Laisre schnaubte zornig.
»Werde nicht spitzfindig. Ich billige es nicht, daß du den rath verläßt.«
»Wenn ich den rath nicht verlassen hätte, meinst du, daß Bruder Dianach dann noch leben würde?«
»Du bringst den Tod mit. Die Raben des Todes kreisen ständig über deinem Kopf«, knurrte Laisre säuerlich.
»Glaubst du wirklich, daß ich für sämtliche Todesfälle der letzten Tage hier verantwortlich bin?«
»Ich weiß nur, daß es solche Todesfälle in unserer Gemeinschaft nie gegeben hat, bevor du herkamst. Je eher du verschwindest, desto besser.«
Er drehte sich abrupt um und eilte zur Festhalle.
Fidelma seufzte und beschloß, ins Gästehaus zurückzukehren. Sie hatte Esnad sicher genug Zeit gelassen, Eadulf alles zu sagen, was sie auf dem Herzen hatte.
Sie wollte gerade die Tür öffnen, als diese aufflog und Esnad herausstürmte; beinahe hätte sie Fidelma umgerannt.
Einen Augenblick später stürzte eine andere Person aus dem Gästehaus und rief: »Esnad! Warte doch!«
Rudgal eilte vorbei, ohne Fidelma zu bemerken.
Fidelma starrte ihm verblüfft nach. Sie ging ins Haus und schloß die Tür hinter sich. Eadulf saß noch dort, wo sie ihn verlassen hatte. Das Essen hatte er kaum angerührt.
Er blickte mit sichtlicher Erleichterung auf.
»Was ist passiert?« fragte Fidelma. »Esnad kam heraus und hat mich fast umgerannt. Dann kam Rudgal, er lief ihr anscheinend nach.«
»Ich habe keine Ahnung«, gestand Eadulf. »Langsam glaube ich, daß hier der Wahnsinn umgeht.«
»Warum war Esnad so scharf darauf, dich allein zu sprechen? Ich dachte, sie hätte dir etwas Wichtiges mitzuteilen, was uns weiterhelfen könnte.«
Eadulf schüttelte den Kopf.
»Sie war mehr darauf aus, mir Fragen zu stellen. Sie wollte wissen, wer ich sei, wo ich herkomme und wie das Leben im Land des Südvolks so ist.«
Fidelma war enttäuscht.
»Das war alles?«
Eadulf wurde verlegen.
»Nein, nicht ganz. Sie wollte wissen, warum ich mit dir unterwegs bin und wie unser Verhältnis ist.«
Fidelma lächelte schelmisch. »Unser Verhältnis?«
»Du weißt schon«, antwortete er lahm.
Fidelma beschloß, ihn nicht weiter zu necken.
»Was meinst du, weshalb sie sich danach erkundigte? Verfolgte sie einen bestimmten Zweck?«
Eadulf war ratlos.
»Ich konnte keinen feststellen. Wenn sie älter wäre ...«
Fidelma schaute ihn scharf an. In ihren Augen blitzte immer noch der Schalk.
»Wenn sie älter wäre?« fragte sie. »Denk dran, sie ist bereits über das Alter der Wahl hinaus.«
Eadulf, rot vor Verlegenheit, wandte ein: »Sie ist doch noch ein Kind.«
»Vierzehn ist in diesem Land das Alter der Reife, Eadulf. In dem Alter kann ein Mädchen heiraten und seine eigenen Entscheidungen treffen.«
»Aber .«
»Du hattest das Gefühl, daß sie dir mehr als nur Freundschaft entgegenbrachte?«
»Ja, das hatte ich. Um die Wahrheit zu sagen, mir ist schon früher aufgefallen, daß sie ziemlich kokett ist und gern mit mir anbändeln würde. Na, das ist wahrscheinlich nur eine vorübergehende Verliebtheit«, schloß er. Es klang nicht sehr überzeugt.
Fidelma konnte nicht umhin, über seine Verwirrung zu lächeln.
»Wichtige Mitteilungen hatte sie also nicht? Na gut. Aber was wollte Rudgal hier und was bedeutete die Szene eben?«
»Er kam wohl her, weil er versprochen hatte, uns was zum Abendessen zu bringen. Er weiß ja, daß Cruinn sich weigert, das Gästehaus zu betreten.« »Und warum ist er Esnad hinterhergerannt?«
»Keine Ahnung. Er kam herein, und als er sah, daß sie uns bereits versorgt hatte, war er sehr verärgert.«
»Wie hat sie reagiert?«
»Ich glaube, sie war nicht sonderlich erfreut, ihn zu sehen. Sie ging sofort weg.«
»Und er lief ihr nach«, überlegte Fidelma laut. »Sehr interessant.«
Eadulf stand auf.
»Ich verstehe das alles nicht, aber essen wir endlich. Es wird spät, und wenn du immer noch meinst, wir sollten uns morgen auf die Suche nach Ibor von Mu-irthemne machen ...?«
Fidelma bestätigte mit einem Nicken, daß sie das vorhatte.
»In dem Fall sollten wir etwas essen und früh zu Bett gehen. Wer weiß, was der morgige Tag uns bringt.«
Kapitel 16
Es war noch dunkel, als Fidelma Eadulf weckte und ihn aufforderte, sich fertig zu machen. Sie war bereits angekleidet, und während er ihrem Beispiel eilig folgte, ging sie hinunter und packte die Reste des Abendessens in ihre Satteltaschen. Als Eadulf bereit war, schlichen sie sich aus dem Gästehaus und über den Hof. Sie hielten sich dabei im Schatten, fern von dem flackernden Licht der Fackeln, damit kein herumwan-dernder Wachposten sie bemerkte. Fidelma wollte möglichst jedem wachsamen Auge entgehen. Ein Posten stand auf der Mauer, aber der schien zu dösen.
Sie sattelten ihre Pferde, so leise es ging, und führten sie vorsichtig aus dem Stall heraus.
Eadulf stöhnte leicht, denn das Klappern der Hufe auf den Pflastersteinen konnte Tote auferwecken. Zumindest weckte es den Posten, der auf der Mauer eingenickt war. Er kam die Treppe herunter und trat ans offene Tor. Fidelma erkannte, daß es nicht möglich war, unbeachtet hinauszugelangen. Ihr mußte etwas einfallen.
»Wer ist da?« fragte der Posten mit rauher, schläfriger Stimme.
»Fidelma von Cashel«, erwiderte sie in hochmütigem Ton.
»Na! Es ist ja noch nicht mal hell«, stellte der Posten das Offenkundige fest. »Warum wollt ihr den rath zu so früher Zeit verlassen?«
Seine Frage klang unsicher, offenbar wußte er nicht recht, wie er sich verhalten sollte.
»Ja, Bruder Eadulf und ich verlassen den rath für kurze Zeit.«
»Weiß Laisre davon, Lady?« erkundigte sich der Posten zögernd.
»Ist Laisre nicht der Fürst von Gleann Geis und weiß, was innerhalb seines eigenen rath geschieht?« konterte sie und versuchte den schmalen Grat zu finden, der ihr eine direkte Lüge ersparte.
Der Ton des Postens war nun gekränkt.
»Mach mir keinen Vorwurf, Lady, weil ich nicht Bescheid weiß. Keiner hat mir gesagt, daß du ausreitest.«
»Dann sag ich dir’s jetzt.« Fidelma bemühte sich, gereizt zu klingen. »Tritt beiseite und laß uns durch. Falls jemand nach uns fragt, wir sind bald zurück.«
Zögernd gab der Posten den Weg frei, und Fidelma und Eadulf trabten durch das offene Tor in die Dunkelheit hinaus.
Erst als sie ein ganzes Stück vom rath entfernt und auf dem Weg waren, der aus dem Tal zu der Schlucht führte, durch die man Gleann Geis verlassen konnte, erlaubte es Eadulf sich, tief und erleichtert Luft zu holen.
»War das klug, Fidelma? Die Andeutung, du hättest Laisres persönliche Erlaubnis für diesen Ausritt, wird den Zorn des Fürsten nur vergrößern, wenn wir zurückkehren.«
»Klugheit entsteht auf den Trümmern der Torheit.« Fidelma lachte. »Ich habe den Mann nicht belogen. Wir kehren so bald wie möglich zurück.«
Es zeigten sich schon erste helle Streifen am Himmel, als sie das düstere Granitstandbild des Gottes Lugh mit der Langen Hand erreichten, das den Eingang zum Tal zierte. Im grauen Zwielicht sah es bedrohlich aus, als sie daran vorbeiritten. Eadulf bekreuzigte sich nervös bei seinem Anblick, doch Fidelmalachte fröhlich.
»Habe ich dir nicht erzählt, daß Lugh für unsere Vorfahren der Gott des Lichts war, der Sonnengott?
Du solltest dich nicht vor ihm fürchten, er war ein guter Gott.«