»Wie kannst du so ruhig über solche schrecklichen Geister reden?« wandte Eadulf ein. »Götter mit Geweihen auf dem Kopf und Schlangen in den Händen!« Er erschauerte.
»Hat dein Volk nicht auch solche Götter verehrt, bevor es zum Christentum bekehrt wurde?« fragte Fidelma.
»Jedenfalls keine mit Geweihen auf dem Kopf«, versicherte ihr Eadulf.
Sie gelangten zum Eingang der Schlucht und ritten in die enge, felsige Klamm hinein.
»Wer da?« rief sie eine Stimme von hoch oben an.
Fidelma stöhnte innerlich. Sie hatte die Posten vergessen, die die Schlucht bewachten. Doch was einmal gelungen war, konnte vielleicht noch einmal gelingen.
»Fidelma von Cashel«, rief sie zurück. Dann kam ihr ein Gedanke, und sie fügte hinzu: »Hast du gestern nachmittag hier auch Wache gehabt?«
Ein Schatten bewegte sich oben und wurde im frühen Licht der Morgendämmerung schemenhaft sichtbar.
»Ich nicht. Weshalb fragst du?«
»Ich möchte wissen, ob der Pferdehändler Ibor von Muirthemne oder Artgal hier durchgekommen sind.«
»Uns entgeht keiner, der diese Schlucht passiert. Der Pferdehändler ritt am Nachmittag hier entlang, da hatte mein Bruder die Wache. Aber Artgal . Nein, das hätte er mir erzählt, wenn der hier durchgekommen wäre. Wir haben gehört, daß er seine Ehre verloren hat.«
Fidelma hatte kaum damit gerechnet, mehr zu erfahren.
»Sehr gut. Dürfen wir weiter?«
»Zieht in Frieden«, wünschte ihnen der Posten.
Als sie aus der Schlucht herauskamen, hatte die Morgendämmerung orangefarbene, goldene und gelbe Streifen auf die Berge gezaubert, und das Land erwachte ringsum vom lärmenden Gesang der Vögel. Zielsicher strebte Fidelma der Stelle zu, an der sie die Leichen der niedergemetzelten jungen Männer gefunden hatten. Als sie sie erreichten, war es völlig hell geworden. Der Blick ging ungehindert in alle Richtungen. In den zwei vergangenen Tagen hatten die Raben ganze Arbeit geleistet. Die weißen Knochen der Skelette lagen verstreut, und es waren kaum noch Reste von Fleisch daran. Eadulf schüttelte sich, als er all die Knochen sah, die im matten Licht schimmerten.
Fidelma warf kaum einen Blick darauf, sondern ritt sofort dorthin, wo nach ihrer Erinnerung Spuren sein mußten. Sie konnte sie aber nicht finden.
»Gestern hat es zwar in Gleann Geis nicht geregnet, wohl aber hinter den Bergen. Es könnte sein, daß die Spuren fortgewaschen wurden«, meinte Eadulf Fidelmasuchte den Boden noch sorgfältiger ab.
»Aber nicht völlig«, rief sie triumphierend. »Hier sind noch schwache Umrisse der Wagenspuren.«
Eadulf ließ den Blick über die Umgebung schweifen, um eventuelle Gefahren auszumachen, denn er hielt das, was sie taten, immer noch für unklug. Wer nicht gezögert hatte, dreiunddreißig junge Männer hinzuschlachten, hätte auch keine Hemmungen, einen Mönch und eine Nonne zu töten, wenn sie zur Bedrohung wurden.
»Komm«, rief Fidelma, »die Spuren führen nach Norden.«
Sie ritt im Schritt weiter.
»Wie weit willst du noch?« murrte der Angelsachse. »Colla sagte, die Spuren seien bald verschwunden.«
Fidelma zeigte nach vorn auf die Hügel am Nordrand des Tals.
»Ich will bis zum Rand der Senke, bis dort, wo die Hügel beginnen. Wenn wir dort nichts mehr finden, reiten wir am Talrand zurück zur Schlucht, die nach Gleann Geis führt, und schließen unsere Angelegenheiten dort ab.«
»Mißtraust du Colla so sehr? Meinst du wirklich, daß er versucht hat, uns irrezuführen?«
»Ich ziehe es vor, mich auf meine eigenen Augen zu verlassen«, erwiderte Fidelma leichthin. »Und vergiß nicht, ich habe Orla vor dem Stall gesehen, das weiß ich. Daraus schließe ich, daß Colla gelogen hat, um seine Frau zu beschützen. Damit jedoch hat er mich in Gefahr gebracht. Was er einmal tat, kann er wieder tun.«
Schweigend ritten sie langsam weiter, ab und zu hielt Fidelma an und suchte nach den Wagenspuren. Die waren bald verschwunden. Sie waren schon nicht mehr zu erkennen gewesen, lange bevor der steinige Boden alle Anzeichen verbarg. Fidelma mußte zugeben, daß Colla die Wahrheit gesagt hatte. Sie waren noch reichlich eine Meile vom Fuß der Hügel entfernt, als keine Spur mehr zu entdecken war.
»Vielleicht hast du Colla doch unrecht getan?« vermutete Eadulf trocken.
Fidelma würdigte ihn keiner Antwort.
»Wenn wir ohne neue Erkenntnisse zurückkommen, wie willst du Laisre das erklären?« bohrte Ea-dulf.
Fidelma schob verärgert die Unterlippe vor.
»Ich habe nicht die Gewohnheit, Erklärungen abzugeben«, erwiderte sie mürrisch. »Er hat kein Recht, meine Handlungen als dalaigh in Frage zu stellen.«
Sie zügelte ihr Pferd und beschattete die Augen mit der Hand. Dann atmete sie ärgerlich aus.
»Wenn ich wenigstens eine Ahnung hätte, wonach wir eigentlich suchen«, knurrte Eadulf mißgelaunt. »Ich glaube nicht, daß wir auf diesem Boden noch weitere Spuren finden. Was willst du sonst noch?«
Eine Weile gab Fidelma keine Antwort. Sie ritten schweigend weiter, bis der steinige Boden der Talsohle zu den umgebenden Hügeln anstieg. Aber die Suche blieb vergeblich. Etwa nach einer Stunde hielt Fidelma an und wies mit der Hand nach Süden.
»Wenn wir uns nach Süden wenden, kommen wir zu ein paar Grasflächen. Vielleicht finden wir dort noch etwas«, meinte sie hoffnungsvoll. »Dieser nördliche Weg gibt nichts mehr her.«
Eadulf unterdrückte einen Seufzer und folgte ihr.
Er hatte das Gefühl, daß die ganze Sucherei nichts brachte. Hier waren keine Wagenspuren, aber Fidelma gab nicht auf. Eadulf wollte schon stärkere Einwände erheben und sagen, sie würden nur Zeit verschwenden und sollten endlich nach Gleann Geis zurückkehren, als Fidelma plötzlich hielt.
»Spuren von mehreren Pferden«, rief sie triumphierend und zeigte auf ein aufgewühltes Stück Rasen.
Eadulf bestätigte es mit säuerlichem Blick.
»Das bedeutet wenig ohne Wagenspuren. Viele Reiter könnten hier entlangkommen.«
Es geschah so plötzlich, daß Fidelma und Eadulf keine Zeit blieb zu reagieren.
Wie aus dem Nichts tauchte ein halbes Dutzend Reiter mit gezogenen Schwertern auf und umringte sie.
»Rührt euch nicht, wenn euch euer Leben lieb ist!« schrie ihr Anführer, ein großer Mann mit einem buschigen roten Bart und einem polierten Bronzehelm, der mit roten Emailstücken verziert war.
Fidelma wurde von Furcht erfaßt, als ihr bewußt wurde, daß er mit nördlichem Akzent sprach.
Ein zweiter Mann ritt an sie heran, und ehe sie sich wehren konnten, band er ihnen geschickt die Handgelenke auf dem Rücken zusammen. Binden wurden ihnen über die Augen gelegt. Hände ergriffen die Zügel ihrer Pferde, und sie wurden in schnellem Trab davongeführt. Sie hatten alle Mühe, sich auf den sich rasch bewegenden Pferden zu halten, und fanden keinen Atem, zu protestieren oder eine Erklärung zu ver-langen. Beide konnten nicht abschätzen, wieviel Zeit verging, bis die, die sie gefangen hatten, ihr Ziel erreichten.
Der Ritt endete so plötzlich, wie er begonnen hatte.
Die Pferde hielten, Befehle wurden gerufen, und starke Arme hoben sie aus den Sätteln. Die Binden wurden ihnen abgenommen, und sie standen blinzelnd inmitten einer Kriegerschar. Fidelma bemerkte, daß sie sich in einer Schlucht befanden, kaum mehr als ein Felsspalt, in dem gerade vier Männer nebeneinander stehen konnten. Ringsum erhoben sich Felswände, der Himmel war kaum sichtbar. Es war eher ein enger, dunkler Gang.
Der Anführer der Krieger, der Rothaarige mit der grimmigen, fast zornigen Miene, stand vor ihnen, und seinem forschenden Blick entging nichts.
»Ihr kommt aus Gleann Geis.« Es war eher eine Feststellung als eine Frage.
»Das bestreiten wir nicht«, bestätigte Fidelma kühl. »Wo kommt ihr her?«
Das Gesicht des Mannes zeigte keine Reaktion. Seine blauen Augen musterten sie eingehend und erfaßten Fidelmas Kreuz des Ordens der Goldenen Kette und Eadulfs ausländisches Aussehen. Er gab einem seiner Männer ein Zeichen. Schweigend reichte der ihm ihre Satteltaschen. Der rothaarige Anführer schaute erst in Eadulfs Satteltaschen und nahm danach Fidelmas.