»Dann seid ihr also gewöhnliche Diebe und Räuber?« höhnte sie. »Wenn ihr Reichtümer sucht, werdet ihr keine finden, denn ...«
Der Mann ignorierte ihre Worte und durchsuchte die Tasche. Er fischte den Goldreif heraus. Seine Augen funkelten.
»Wer bist du?« wollte er wissen.
»Ich bin Fidelma von Cashel.«
»Eine Frau aus Muman, die den goldenen Halsreif von Ailech trägt?« Er lachte spöttisch. Er ließ ihn in die Tasche fallen und warf sie sich über die Schulter.
Als Fidelma den Namen Ailech hörte, fuhr sie zusammen.
Ailech war die Hauptstadt der nördlichen Ui-Neill-Könige, die in Feindschaft mit den südlichen Ui-Neill-Königen lebten, die in Tara herrschten.
Der Rothaarige bewegte sich auf eine der glatten Felswände zu. Seine Männer hatten einen Ring um Fidelma und Eadulf gebildet. Bevor sie noch Einspruch erheben oder Forderungen stellen konnten, wurden sie auf diese hoch aufragende Wand zu gedrängt. Das ging so schnell, daß Eadulf unwillkürlich die Augen schloß, weil er einen Augenblick lang glaubte, sie sollten getötet werden, indem man sie einfach mit Gewalt gegen den Granitfelsen laufen ließ. Dann fühlte er sich plötzlich von Kälte und Dunkelheit umgeben. Er wagte die Augen aufzuschlagen und fand sich in einer Höhle wieder, die von einer einzigen Fackel schwach erhellt wurde. Irgendwie waren er und Fidelma durch einen verborgenen Höhleneingang geschleust worden.
Der Anführer lief weiter voran durch einen dunklen Tunnel. Weder Fidelma noch Eadulf erhoben Protest, das hätte wenig Zweck gehabt. Die Krieger zogen sie schnell und gekonnt mit sich. Es ging durch eine Reihe von Höhlen und engen Gängen. Dann machten sie plötzlich halt.
»Verbindet ihnen wieder die Augen«, befahl der Anführer.
Erneut befanden sie sich in völliger Dunkelheit.
Nach kurzer Pause wurden sie weiter vorwärtsgeschoben. Es dauerte nicht lange, bis sie wieder anhielten. Die Luft war auf einmal wärmer. Fidelma spürte auf den Wangen den Hauch eines Feuers.
»Wir haben zwei Spione aus Gleann Geis gefangen, Lord«, erklärte der Anführer der Schar.
»Spione, meinst du?« Diese Stimme kannten Fidelmaund Eadulf. »Löst ihnen die Binden, damit sie sehen können.«
Rauhe Hände nahmen ihnen die Binden von den Augen.
»Vorsichtig!« tadelte die Stimme. »Tut unseren geehrten Gästen nicht weh.«
Fidelma schaute blinzelnd in die rauchige, große Höhle, die von flackernden Fackeln erhellt wurde. Sie bemerkte Schlafdecken, ein Feuer in einer Ecke, günstig angelegt unter einer Art natürlichem Schornstein; über ihm hing ein Kessel, in dem es brodelte. Eadulf hatte Schwierigkeiten mit seinen Augen und nahm die Umgebung noch nicht wahr. Außer den Männern, die sie hergebracht hatten, hockte ein halbes Dutzend weiterer Krieger auf den Decken; einer hütete den Kessel. Auf einem Stuhl saß eine bekannte Person: Der Pferdehändler.
Fidelma lächelte grimmig.
»Ich habe mir gedacht, daß sich unsere Wege noch einmal kreuzen, Ibor von Muirthemne.«
Der junge Mann lachte gutmütig.
»Macht ihnen die Hände los und laßt sie sich setzen«, befahl er.
»Aber, Lord ...«, wandte der Rothaarige ein, der sie gefangengenommen hatte. »Schau her!« Er nahm den Goldreif und hielt ihn Ibor hin. »Das führt die Frau mit sich, und das beweist ihre Schuld.«
Ibor nahm den Reif und untersuchte ihn. Dann hob er den Blick.
»Macht sie sofort los!« sagte er bestimmt.
Widerwillig zog der Rothaarige sein Messer und durchschnitt erst Fidelmas Fesseln und dann die Schnur um Eadulfs Handgelenke. Einen Moment rieben sie ihre wundgescheuerten Handgelenke und musterten Ibor neugierig. Er war jetzt als Krieger gekleidet, was besser zu ihm paßte als seine vorige Kostümierung. Das bestätigte Fidelmas früheren Eindruck, Ibor sehe mehr wie ein Krieger als wie ein Pferdehändler aus. Der einstige Kaufmann aus Muirthemne war offensichtlich ein Kriegsmann.
»Setzt euch und nehmt meine Gastfreundschaft an«, lud Ibor sie so höflich ein, als heiße er sie in seinem rath willkommen. »Es ist zwar etwas bescheiden hier, da wir draußen kampieren .«
»Auf der Flucht vor Recht und Gesetz«, warf Ea-dulf säuerlich ein.
Ibor schüttelte den Kopf und lächelte noch breiter.
»Nicht auf der Flucht, nur möchten wir unsere Gegenwart nicht öffentlich machen. Kommt, setzt euch. Es wird euch nichts geschehen, solange ihr meine Gäste seid.«
Zögernd ließen sich Fidelma und Eadulf auf den Decken nieder, auf die er gedeutet hatte. Sie hatten keine andere Wahl.
»Warum hast du die Leute von Gleann Geis in dem Glauben gelassen, daß du es warst, der Artgal bestochen hat?« fragte Fidelma ohne weitere Vorrede.
»Ich dachte, das hätten sie schon ohne mein Zutun beschlossen«, erwiderte Ibor belustigt.
»Durch dein Fortlaufen hast du sie darin bestärkt.«
»Es war ein strategischer Rückzug zu meinen Männern.«
»Und was genau hast du vor?«
Ibor zuckte die Achseln und lächelte immer noch.
»Wer weiß? Vielleicht muß man dieses Nest von Ungeziefer ausrotten.«
»Bruder Dianach ist tot. Ich weiß, daß er derjenige war, der die Kühe kaufte, um Artgal damit zu bestechen, und nicht du.«
Der junge Mann schien nicht überrascht.
»Und Artgal? Was sagt der jetzt dazu?«
»Artgal ist verschwunden.«
Es trat Schweigen ein, doch Ibor blieb weiterhin die Ruhe in Person.
»Sobald Artgal anfing zu lügen, was Bruder Dia-nach betraf, wußte ich, daß der Verdacht auf mich fallen würde. Ich wäre ergriffen worden für etwas, was ich nicht getan hatte ... Genauso, wie es dir erging, Fidelma.«
»Dir war bekannt, daß ich unschuldig bin?« fragte Fidelma erstaunt.
»Mir war klar, daß du wohl kaum einen Grund hattest, Bruder Solin umzubringen«, bestätigte er. »Ich hoffte, ich könnte herausfinden, wer es tat, bevor es für mich notwendig wurde, mich aus Laisres rath zu entfernen.«
»Schwer zu glauben, daß du nichts mit dem Mord an Solin zu tun hast«, meinte Fidelma skeptisch. »Wer bist du und was machst du hier?«
»Du weißt bereits, daß ich Ibor bin; Ibor, Lord von Muirthemne.«
»Das ist ein stolzer Titel. Es ist nicht der Titel eines Pferdehändlers.«
»Ich bin stolz darauf, ihn zu tragen. Er ist von alter Herkunft. Mein Vorfahr war Setanta von Muirthemne, den die Leute Cüchulainn nannten, den Jagdhund von Culainn.«
Fidelma sah Ibor in die Augen und erblickte darin den Stolz auf seine Ahnen.
»Du hast uns noch nicht erklärt, warum sich der Lord von Muirthemne in der Verkleidung eines Kaufmanns nach Gleann Geis hineinschlich. Das ist ein eigenartig abgeschiedener Winkel, in den eine Kriegerschar aus dem Norden wohl kaum zufällig und ohne eine böse Absicht hineinstolpert?«
»Es stimmt, wir sind nicht hineingestolpert, und wir sind mit einer bestimmten Absicht hergekommen.«
»Wenigstens sprichst du jetzt ehrlich mit mir. Warum?«
Ibor lächelte entwaffnend.
»Ich muß dich bitten, vorsichtig mit dem umzugehen, was ich dir sage.«
Fidelma hielt den Kopf leicht zur Seite geneigt. Ihre Miene verriet Neugier.
»Vorsichtig? Du forderst keine Geheimhaltung?«
Ibor schüttelte den Kopf.
»Ich vertraue auf deine Vorsicht und Ehrlichkeit, so wie ich hoffe, daß du auf meine vertraust, wenn du meine Geschichte gehört hast. Ich kenne deinen Ruf. Das sagte ich dir schon einmal. Ich sehe auch, daß du das Kreuz des Ordens der Goldenen Kette trägst. Deshalb setze ich mein Vertrauen in dich.«
Fidelma schaute ihn weiter nachdenklich an.