»Warum nicht? Wenn Mael Düin von Ailech meint, er könne das, warum nicht auch Ultan? Wenn Mael Düin ein mächtiges Großkönigtum in Tara errichten kann, das den römischen Ritus und die römische Organisation bevorzugt, dann wird auch Armagh groß werden, weil es zur puruchia des Großkönigs gehört. Ultan will das Oberhaupt des Glaubens in Irland werden, so wie Mael Düin ein Großkönig mit wirklicher zentraler Macht werden will.«
Beunruhigung ergriff Fidelma, als sie über das ganze Ausmaß dessen nachdachte, was Ibor ihnen da enthüllte.
»Das erklärt viel von dem, womit Bruder Solin sich brüstete. Also will Ultan die mächtige zentrale Autorität Mael Düins dazu benutzen, die Oberherrschaft von Armagh über alle anderen Kirchen in den fünf Königreichen durchzusetzen?«
»Genau das.«
Eadulf schaltete sich zum erstenmal ein.
»Eins vergißt du dabei«, sagte er bedächtig. »Selbst wenn dieser König von Ailech die südlichen Ui Neill überwindet, könnte er sich in Tara nicht lange an der Macht halten. Cashel und mit ihm Imleach wären die ersten, die sich gegen solche unsinnigen Ansprüche wehren würden.«
Ibor schaute ihn beinahe traurig an.
»Deshalb müßten Cashel und Imleach geschwächt werden«, erklärte er.
Fidelma warf den Kopf hoch, ihre blitzenden Augen suchten Ibors Blick.
»Du hast von solch einem Komplott gehört?«
»Das Komplott ist bereits geschmiedet worden, und sein Ausgangspunkt ist Gleann Geis«, erwiderte er. »Es sind Mael Düin und Ultan, die dahinter stek-ken. Wenn die nördlichen Ui Neill in voller Stärke vorgehen, könnten die südlichen Ui Neill sie nicht lange aufhalten. Es gibt zu viele Bande der Verwandtschaft und des Blutes zwischen Mael Düin und Sech-nassach, die einen ernsthaften Kampf ausschließen. Wenn das geschieht ...« Ibor breitete resigniert die Arme aus.
»Aber Cashel würde es nicht dazu kommen lassen«, versicherte Fidelma. »Vom Wunsch, Cashel zu schwächen, wird es noch nicht schwach.«
»Stimmt. Also muß man es schwach machen. Cashel bildet das größte Hindernis für den Ehrgeiz der nördlichen Ui Neill, das Großkönigtum zu übernehmen. Mael Düin sucht schon eine ganze Zeit nach den Schwachpunkten von Cashel. Und wo liegt Cashels größte Schwäche?«
Fidelma überlegte einen Moment.
»Nun, bei den Ui Fidgente im nordwestlichen Muman«, sagte sie nachdenklich. »Und bei den Clans westlich des Shannon. Sie gehören zu den unruhigsten Clans von Muman. Die Ui Fidgente haben schon oft-mals versucht, die Könige von Cashel zu stürzen und das Königreich zu spalten.«
»Darin besteht die Schwäche von Muman - in den Ui Fidgente«, erklärte Ibor wie ein Lehrer, der seine Lektion zusammenfaßt.
»Also wurde Bruder Solin hierher geschickt, um neue Streitigkeiten zwischen den Ui Fidgente und den Eoghanacht von Cashel zu entfachen? Meinst du das?« fragte Eadulf.
»Er wurde als Ultans Agent ausgesandt und durch Ultan auch als Sendbote Mael Düins.«
»Und wozu wurdest du hergeschickt? Um Bruder Solin umzubringen?«
»Nein. Ich sagte schon, daß ich mit seinem Tod nichts zu tun habe. Ich habe ihn nicht getötet. Doch ich wurde ausgesandt, um die Einzelheiten von Mael Düins Komplott zu entdecken.«
Fidelma fiel es schwer, zu begreifen, welch ein teuflisches Vorhaben der Lord von Muirthemne da enthüllte. Sie schaute Ibor direkt an.
»Was ist mit der Niedermetzelung der dreiunddreißig jungen Männer? Mit dem Ritualmord?«
»Du stehst doch im Ruf, Rätsel lösen zu können. Du kamst als Abgesandte von Cashel und Imleach und stießest auf etwas, was du für einen Ritualmord hieltest. Wer hätte einen Nutzen davon gehabt, wenn du so reagiert hättest, wie es zu erwarten stand?«
Einen Moment starrte sie ihn verständnislos an.
»Wie hätte ich denn reagieren sollen?« fragte sie unsicher.
»Die Verantwortlichen für dieses Hinschlachten wußten nur, daß eine Nonne nach Gleann Geis kommen würde. Sie richteten das rituelle Blutbad an in der Überzeugung, daß diese Nonne die heidnische Symbolik darin erkennen und nicht weiter nachforschen würde.«
Fidelma begann zu begreifen.
»Sie dachten, die Nonne würde in Panik geraten, nach Cashel zurückreiten und zum Religionskrieg aufrufen, um die Barbaren von Gleann Geis auszurotten, die solch ein Verbrechen begangen hatten?«
»Genau das«, stimmte ihr Ibor zu. »Cashel hätte in diesem Fall all seine Macht aufgeboten, um Rache an Gleann Geis zu üben. Gleann Geis hätte seine Unschuld beteuert, und man hätte den Freunden von Gleann Geis Beweismittel in die Hände gespielt, die darauf hindeuteten, daß Cashel selbst hinter dem Verbrechen steckte. Den Clans der Umgebung hätte man dann mitgeteilt, daß Cashel der Übeltäter wäre und das Blutbad dazu benutzen wollte, die Vernichtung von Gleann Geis zu rechtfertigen. In ihrer Empörung wären diese Clans Gleann Geis zu Hilfe geeilt. Die Ui Fidgente könnte man ohne Schwierigkeit dazu überreden, sich noch einmal gegen Cashel zu erheben. Ein Bürgerkrieg würde das Land zerreißen.«
»Aber die meisten Clans in diesem Königreich würden Cashel unterstützen«, wandte Eadulf ein.
»Möglich. Doch die nördlichen Ui Neill würden ihren Abscheu über solche Taten zum Ausdruck bringen«, fuhr Ibor fort, »und dann ihre Verbündeten dazu ermuntern und ihnen helfen, auf Cashel zu marschieren. Wäre Cashel erst vernichtet, könnte Mael Düin damit beginnen, das Großkönigtum zu erlangen und seinen Einfluß auf alle Königreiche auszudehnen. Wären die Eoghanacht von Cashel gestürzt, gäbe es niemanden mehr, der sich gegen die Ui Neill stellen könnte.«
Fidelma schien das unglaublich. Doch hinter dem, was Ibor sagte, steckte eine finstere Logik.
»All das hätte leicht passieren können«, murmelte sie.
Sie brauchte Eadulf nicht anzusehen, um ihn in Verlegenheit zu bringen. Er senkte betreten den Kopf in Erinnerung an das, was er ihr geraten hatte, als sie die Leichen entdeckten und die symbolische Bedeutung des Massakers begriffen. Er spürte wachsendes Entsetzen.
»Habe ich dich richtig verstanden?« fragte er Ibor. »Die dreiunddreißig jungen Männer wurden zu keinem anderen Zweck niedergemacht als zu dem, uns zu beeindrucken? Es wurde ein groteskes Schauspiel arrangiert mit dem Ziel, uns in Panik nach Cashel zurückzujagen und zu einem heiligen Krieg gegen die Heiden von Gleann Geis aufrufen zu lassen?«
Ibor betrachtete den Angelsachsen mit ernstem Spott.
»Das ist genau das, was ich erläutert habe.«
»Und diese Söhne Satans haben uns die ganze Zeit beobachtet«, murmelte Eadulf nachdenklich. »Erinnerst du dich«, wandte er sich an Fidelma, »daß wir das Sonnenlicht auf Metall aufblitzen sahen, als wir zu diesem Tal aufstiegen? Wir wurden belauert. Sie müssen unser Näherkommen verfolgt und gewußt haben, welchen Weg wir nach Gleann Geis einschlugen, so daß sie ihre grausige Darbietung dort vollführen konnten, wo wir mit Sicherheit darauf stoßen mußten.«
Ibor von Muirthemne lächelte Fidelma düster an.
»Ein Krieg, wie sie ihn planten, hätte leicht ausbrechen können, wenn du so reagiert hättest, wie sie es erwarteten. Doch, Gott sei Dank, das tatest du nicht. Du bewahrtest einen kühlen Kopf und gingst nach Gleann Geis, um die Wahrheit zu suchen.«
Es trat Schweigen ein, während sie bedachten, welch eine plötzliche Wendung des Schicksals den erhofften Erfolg des sorgfältig geplanten Komplotts verhindert hatte.
»Sechnassach sagte mir einmal, du seist eine Individualistin, Fidelma«, fuhr Ibor anerkennend fort. »Er behauptete, du lehntest dich auf gegen die herkömmliche Weise, Dinge zu tun.«
»Es war ein gut durchdachtes Komplott«, gab sie zu. »Aber, Ibor, du hast uns noch nicht gesagt, wer die jungen Männer ermordet hat?«