Er erschauerte unwillkürlich.
»Ich habe im Krieg viele üble Taten erlebt, die die Menschen im Fieber des Kampfes verübten, aber ich kann mich an keine erinnern, die diesem Greuel nahe-kam. Ich ging mit meinen Spähern hin und sah, daß die Leichen verstümmelt worden waren - es war der Dreifache Tod, mit dem die Geschichtenerzähler uns als Kinder erschreckten. Erst als ich erkannte, wie die Leichen angeordnet waren, ging mir auf, welche Bedeutung das hatte.«
»Warum hast du mir nicht gesagt, was du wußtest, als du nach Gleann Geis kamst, anstatt so zu tun, als wärest du ein Pferdehändler?« erkundigte sich Fidel-ma. »Es war eine schlechte Verkleidung, die leicht zu durchschauen war.«
Ibor lächelte schief.
»Es war die einzige Verkleidung, die mir einfiel, um in das Tal zu gelangen. Aber warum ich dir nichts sagte - ich wußte nicht, wer du warst. Als Laisre uns einander vorstellte, kannte ich nur deinen Ruf. Doch ich hörte, dein Begleiter sei ein römischer Mönch.« Er schaute Eadulf an. »Er hätte einer von Mael Düins Leuten sein können oder ein Anhänger Ultans. Ich konnte dir nicht trauen. Ich konnte nicht wissen, ob du zu den Komplizen des Komplotts gehörtest oder nicht. Ich hatte jedoch den Verdacht, daß Orla dazugehörte, denn sie war es, die sich mit Bruder Solin und den Schlächtern aus Ailech getroffen hatte. Je mehr ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, daß Mael Düin ein solches Komplott nicht allein oder nur mit Solins Unterstützung schmieden oder durchführen konnte. Wenn es zum Erfolg führen sollte, brauchte er wenigstens einen Verbündeten in Gleann Geis.«
Eadulf nickte langsam.
»Was geschah, als Colla später an den Ort das Massakers kam? Habt ihr beobachtet, was er tat?« fragte er.
»Wir versteckten uns vor Colla und seinen Leuten. Ich hatte zwei Männer ausgesandt, die die Spuren der Krieger aus Ailech verfolgen sollten. Sie taten das bis zur Grenze der Ui Fidgente und kehrten dann zurück mit der Nachricht, daß diese Abkömmlinge des Bösen eindeutig auf dem Rückweg zu ihrem Herrn und Meister in Ailech waren. Wir sahen zu, wie Colla das Tal eine Weile absuchte. Er ritt bis zu den Vorbergen, in denen wir uns verborgen hielten. Danach kehrte er um nach Gleann Geis.«
Fidelma lehnte sich zurück.
»Darauf hast du beschlossen, als Pferdehändler verkleidet nach Gleann Geis zu kommen, um zu sehen, was dort vor sich ging?«
Ibor bejahte es mit einer Geste.
»Dann fügte sich alles zu einem Bild zusammen, so schien es mir jedenfalls. Ein großes Schauspiel war aufgeführt worden, um einen schrecklichen Krieg in Gang zu bringen. Nur weil du dich nicht in Panik versetzen ließest und nicht bei erster Gelegenheit >Haltet den Dieb!< gerufen hast, kam es nicht zum sofortigen Ausbruch von Feindseligkeiten. Mein Problem bestand darin, daß Bruder Solin mich als Krieger aus Ulaidh im Dienste Sechnassachs erkannte.«
»Ich habe euer Gespräch im Pferdestall mit angehört. Warum hat er dich nicht verraten?«
»Das hätte er wohl getan, wenn ich nicht seinen Bluff aufgedeckt und gedroht hätte, ich würde ihn auch bloßstellen. Anscheinend gibt es viele in Gleann Geis, die nicht in dieses Komplott eingeweiht sind. Ich versuchte, herauszufinden, wer auf welcher Seite steht, als Solin ermordet wurde und du angeklagt wurdest.«
»Und da bist du geflohen!« spottete Eadulf. »Dadurch hast du den Verdacht auf dich selbst gelenkt.«
»Was hätte ich unter den gegebenen Umständen denn sonst tun sollen?« wollte Ibor wissen. »Jemand mußte doch in Freiheit bleiben und Sechnassach unterrichten.«
»Mit Bruder Solins Tod hattest du nichts zu tun?«
»Das ist doch offensichtlich.«
Nachdenklich erwog Fidelma, was Ibor berichtet hatte.
»Es sind noch viele Fragen offen«, grübelte sie laut.
»Zum Beispiel, woher Mael Düin in Ailech im fernen Norden wußte, daß Laisre Geistliche aus Cashel zu Verhandlungen über den Glauben einladen würde? Wie hat er erfahren, daß diese Abgesandten an einem bestimmten Tag eintreffen würden, so daß seine Männer angewiesen werden konnten, wo und wann sie die Leichen hinzulegen hatten?« warf Eadulf ein.
»Mael Düin muß genau darüber informiert worden sein, was vor sich ging«, stimmte Ibor ihm zu. »Orla zeigte seinen Leuten die Stelle, an der ihr die Leichen finden solltet. Handelte sie allein? Das ist eher unwahrscheinlich. Aber wer ist noch mit ihr verbündet?«
Fidelma nickte.
»Bestimmt gehört sie zu den Verschwörern. Aber -und das ist die Frage, auf die wir unbedingt eine Antwort finden müssen -, wenn Orla auf diese Weise mit Bruder Solin im Bunde war, weshalb hat sie ihn dann umgebracht?«
Ibor fuhr überrascht auf.
»Das ist mir noch gar nicht aufgefallen. Bist du sicher, daß du sie hast aus dem Stall kommen sehen? Wenn ja, bedeutet das, daß Colla auch ihr Komplize ist?«
Fidelma schwieg einen Moment.
»Ja. Aber ein Rätsel bleibt: Wenn man mit diesem schrecklichen Komplott einen Bürgerkrieg herbeiführen wollte, warum wendet sich ein Verbündeter gegen einen anderen? Warum wurde Bruder Solin umgebracht und danach Dianach? Das ergibt keinen Sinn.«
Ibor breitete hilflos die Arme aus.
»Ich habe gehofft, du könntest diesen Knoten auflösen.«
»Auch ich kann keine Wunder vollbringen, Ibor«, erwiderte Fidelma düster. »Ich habe noch keinen Fall erlebt, bei dem alle Wege derart ins Nichts führen, bei dem es so viele Verdachtsmomente gibt, aber keine greifbaren Tatsachen. Ich fürchte, die Antworten liegen im rath von Gleann Geis.«
Eadulf erschauerte leicht.
»Besser, wir reiten gleich nach Cashel und berichten deinem Bruder, was wir schon wissen.«
Ibor stimmte ihm zu.
Fidelma schüttelte energisch den Kopf.
»Ich nehme an, wir können uns nun wieder frei bewegen?« fragte sie Ibor mit leichter Ironie.
Der Lord von Muirthemne zeigte sich reuig.
»Natürlich. Meine Männer haben euch nur festgehalten, weil ich ihnen gesagt hatte, jeder, der aus Gleann Geis käme, sei verdächtig. Ich wollte ohnehin versuchen, mit euch Verbindung aufzunehmen und euch meine Unterstützung anzubieten.«
»Wenn das so ist, wird Bruder Eadulf bei euch bleiben, ich aber werde in Laisres rath zurückkehren«, verkündete Fidelma. »Nur dort laufen die letzten Fäden des Geheimnisses zusammen. Wenn du jedoch einen deiner zuverlässigsten Männer entbehren könntest und er zu meinem Bruder nach Cashel reiten könnte ...? Wir müssen ihn von Mael Düin von Ai-lechs Plänen und Ultans Anteil daran in Kenntnis setzen.«
»Dein Bruder wird sicher mißtrauisch sein, wenn ein Krieger aus Ulaidh mit solch einer abenteuerlichen Geschichte ankommt«, wandte Ibor ein.
»Hab keine Angst. Kann einer deiner Männer mir ein paar Haselruten abschneiden?«
Ibor stutzte verwundert, gab aber den Befehl an einen seiner Krieger weiter. Der eilte davon.
»Was hast du vor?« fragte er. »In Gleann Geis könnte es für dich sehr gefährlich werden. Wenn Orla und Colla vermuten, daß du etwas von ihrem Komplott weißt, von dem, was dort wirklich vor sich geht, dann werden sie nicht zögern, dich umzubringen. Wer bewußt den Mord an dreiunddreißig jungen Gefange-nen auf sich nimmt, nur um Uneinigkeit und Streit zu stiften, überlegt nicht lange, ehe er weitere Mordtaten begeht, um seine Verbrechen zu decken.«
»Das weiß ich«, gestand Fidelma. »Wie viele Männer, sagst du, hast du bei dir?«
»Zwanzig Krieger der Craobh Righ, aus dem königlichen Zweig von Ulaidh«, antwortete Ibor stolz. Die Craobh Righ waren die auserlesene Leibwache der Könige von Ulaidh. Dann fügte er zögernd hinzu: »Warum fragst du?«