»Ich glaube, ich sehe ein Muster, das sich in diesem verschwommenen Bild abzeichnet«, meinte sie nachdenklich. »Laß mich noch einen Moment überlegen.«
Kurz darauf kehrte der Krieger mit einer Handvoll biegsamer Haselruten zurück. Fidelma nahm sie und bat Ibor um ein scharfes Messer. Sie schauten erstaunt zu, wie Fidelma geschickt eine Reihe von Kerben in die Ruten einschnitt. Dann band sie sie mit einem Lederriemen zusammen, den sie ihrem marsupium entnahm, und reichte sie Ibor.
»Dein Mann braucht weiter nichts zu tun, als dies meinem Bruder in Cashel zu überbringen. Er soll sie ihm in die Hand geben und niemand anderem. Ist das klar?«
Ibor wandte sich an den Krieger, der ihm die Ruten gebracht hatte.
»Hast du verstanden, was du zu tun hast, Mer?«
Der Krieger nickte und nahm das Bündel Ruten.
»Es wird geschehen, wie du es gesagt hast, Schwester«, versicherte er.
Fidelma schaute zu ihm auf.
»Ich habe eine Botschaft für meinen Bruder in Ogham eingeritzt, in der alten Schrift unserer Sprache. Er versteht sie.«
»Es ist lebenswichtig, daß die Botschaft durchkommt«, fügte Ibor ruhig hinzu. »Die Sicherheit der fünf Königreiche steht auf dem Spiel.«
Der Krieger namens Mer hob die Hand zum förmlichen Gruß und eilte davon.
»Es wird ein paar Tage dauern, bis mein Bruder die Nachricht erhält«, überlegte Fidelma.
»Hast du ihn gebeten, mit einem Heer anzurük-ken?« fragte Eadulf.
»Und genau das zu tun, wozu ihn Mael Düin und seine Verbündeten veranlassen wollen?« spottete Fidelma. »Nein. Ich habe ihm lediglich die Situation beschrieben und ihn vor Ailech und vor Ultan von Armagh gewarnt.«
»Was hast du dann vor?« fragte Eadulf verwirrt.
»Wie ich schon sagte, ich werde nach Gleann Geis zurückkehren und weitere Nachforschungen anstellen. Aber ich glaube, ich werde nicht mehr lange zu suchen brauchen. Ibor hat recht. Wir können vielleicht Freunde in Gleann Geis finden, die ebenso entsetzt sind wie wir, wenn sie von diesem Komplott zur Vernichtung von Muman erfahren. Wenn ich genau weiß, wer dafür verantwortlich ist, kann ich ihnen die Tatsachen vorlegen und sie um ihre Hilfe bitten.«
»Aber ist es klug, dorthin zurückzugehen?« wandte Ibor ein. »Du wirst ständig in Gefahr sein.«
Fidelma lächelte kurz.
»Klugheit bedeutet, zur rechten Zeit klug zu sein. Ich muß verschiedenen Leuten ein paar Antworten entlocken. Ich glaube, ich brauche nur noch einen Tag, dann weiß ich Bescheid.«
Eadulf sah sie erstaunt an, doch Fidelma sprach mit ruhiger Zuversicht.
»Es wird später Nachmittag, bis ich wieder in Gleann Geis bin. Also sollte ich morgen früh bereit sein zu handeln. Ich möchte, daß du, Ibor, und deine Männer morgen beim Morgengrauen Laisres Burg unter Kontrolle haben. Zu der Zeit müßt ihr alle beherrschenden Punkte besetzt haben.«
Ibor war so verblüfft von ihrer Forderung, daß es ihm die Sprache verschlug. Eadulf war offenbar noch verwirrter.
»Das ist nicht besonders schwierig«, versicherte ihm Fidelma. »Ich habe nie mehr als ein halbes Dutzend von Laisres Kriegern gleichzeitig auf Wache gesehen, und die Tore bleiben die ganze Nacht weit offen.«
Ibor hatte seine Zweifel.
»So leicht ist das nun auch wieder nicht. Selbst in der Dunkelheit kann man Laisres rath kaum erreichen, ohne gesehen zu werden. Der Grund, weshalb die Tore nie geschlossen werden, liegt nahe. Nur der Weg durch die enge Schlucht führt ins Tal, und der ist immer bewacht, deshalb braucht man die Tore der Burg nicht zu schließen. Schon an der Schlucht wird Alarm geschlagen, wenn bewaffnete Fremde einreiten.«
Eadulf war derselben Meinung.
»Sogar als wir heute vor dem Morgengrauen hinausritten, wurden wir angerufen, Fidelma«, erinnerte er sie. »Ibor hat recht. Seine Männer können gar nicht erst ins Tal gelangen.«
»Aber es gibt einen anderen Weg.« Fidelma überging ihre Einwände. »Da ist noch der Fluß.«
Ibor lachte wegwerfend.
»Ein Fluß mit Stromschnellen und Wasserfällen, den man nicht einmal mit einem Boot befahren kann? Nur ein Lachs könnte so das Tal erreichen. Von diesem sogenannten Weg habe ich von Murgal gehört, der mit der Unangreifbarkeit des Tals prahlte.«
»Laut Cruinn gibt es einen schmalen steinigen Pfad neben dem Fluß, der jeweils einem Mann Platz bietet und manchmal durch Höhlen verläuft, aber schließlich ins Tal führt.«
»Kann man ihr trauen?« Der Lord von Muirthemne war nicht überzeugt.
»Es entfuhr ihr in einem unbedachten Moment, und es tat ihr auch gleich leid. Ich meine, wir können uns darauf verlassen. Das bedeutet, man kommt zu Fuß ins Tal. Werdet ihr den Pfad finden und im Schutz der Dunkelheit die Burg ungesehen erreichen können? Am Ende steht ihr nur ein paar Freizeitkriegern gegenüber, während du eine Schar der Craobh Righ führst.«
Ibor errötete bei der Andeutung, die Krieger des königlichen Zweiges von Ulaidh fürchteten sich vor einer Handvoll Amateurkriegern.
Diesmal zögerte er nicht.
»Wenn es einen Weg gibt, Schwester, werden meine Männer und ich ihn finden. Können wir ungesehen ins Tal gelangen, werden wir Laisres rath vor dem Morgengrauen beherrschen, wie du es verlangst.«
»Gut. Wenn ihr ihn kontrolliert, dann, so meine ich, kann ich den Schleier von dem Komplott und von den Morden lüften, ohne etwas für mich befürchten zu müssen.«
»Aber zuvor müssen wir noch zwölf Stunden überleben«, erklärte Eadulf.
»Wir?« fragte Fidelma lächelnd. »Ich habe doch vorgeschlagen, daß du bei Ibor bleibst.«
»Du denkst doch nicht etwa, daß ich dich allein zurückkehren lasse?« fragte Eadulf gereizt.
»Das erwarte ich nicht von dir, Eadulf. Es geht nicht um dein Land.«
»Der Kampf zwischen Cashel und den Ui Fidgente ging mich auch nichts an, aber ich habe mich eingemischt und ihn zu meiner Sache gemacht«, sagte er bestimmt. »Was Cashel bedroht, ist immer auch meine Sache.«
Den letzten Satz sprach er mit einer gewissen Betonung.
Fidelma tat so, als habe sie nicht verstanden, diskutierte aber nicht weiter mit ihm.
»Dann sehen wir dich also morgen früh, Ibor. Wir verlassen uns auf dich.«
Ibor geleitete sie zu der kleinen Schlucht, wo sein rothaariger Unterführer sie, jetzt in sehr respektvoller Haltung, mit ihren Pferden erwartete. Sie verabschiedeten sich kurz, und dann führte sie der rothaarige Krieger aus den Vorbergen heraus bis an den Rand des Tals. Fidelma erlaubte ihm nicht, sie noch weiter zu begleiten, für den Fall, daß sie auf ihrem Rückweg jemandem aus Gleann Geis begegneten. Fidelma und Eadulf ritten weiter nach Süden und hielten sich längs der Vorberge, so daß sie das Tal nicht durchquerten.
»Meinst du wirklich, du kannst beweisen, daß Orla an Solins Tod die Schuld trägt?« brach Eadulf nach einer Weile das Schweigen.
»Ich muß noch eine Frage klären, dann kann ich mit Sicherheit eine Hypothese aufstellen«, erwiderte sie ruhig.
Eadulfs Mundwinkel zogen sich zweifelnd herab.
»Eine Hypothese ist vor einem Richter kein Argument«, antwortete er.
»Stimmt, aber mehr werde ich nicht zu bieten haben«, gab sie zu. »Ich denke, das wird genügen, um die zu mobilisieren, die uns gegen Mael Düin von Ai-lech unterstützen werden.«
»Worin besteht deine Hypothese?«
»Das kann ich noch nicht sagen, bevor ich nicht das letzte Kettenglied gefunden habe, und das beunruhigt mich im Augenblick. Wenn es nicht in die Lücke paßt, bricht meine ganze Beweisführung zusammen.«
Sie waren gerade um einen kleinen Hügel herumgeritten, als plötzlich eine Reiterschar von zwei Seiten auf sie losstürmte. Die Männer schrien und schwenkten drohend ihre Schwerter.
Fidelma riß ihr Pferd herum, aber sie waren umzingelt und waffenlos. Eadulfs Pferd bäumte sich auf und schlug mit den Vorderhufen um sich. Er hatte Mühe, sich im Sattel zu halten, doch es gelang ihm, und er bekam das Pferd unter Kontrolle.