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Die größte Menschentraube befand sich in der mit einem niedrigen Geländer abgesperrten Nische unter dem St. Thomas Tower, die zum Verrätertor führte. Von der Außenseite war das Tor nur per Boot erreichbar. Auf diesem Weg wurden in früheren Jahrhunderten Gefangene direkt von der Themse aus in die Festung gebracht.

Nur bei niedrigem Gezeitenstand der Themse war die tief liegende Nische, die von der Festungsseite aus über eine Steintreppe erreichbar war, trockenen Fußes begehbar. Ein flüchtiger Blick sagte John, dass der gegenwärtige Niedrigwasserstand bald beendet sein würde. Durch das Torgitter schwappten bereits erste kleine Wellen herein.

Vor der Wachstube des Cradle Tower stoppte der Uniformierte und öffnete ihm die Tür.

„Bitte warten Sie hier. Der Superintendent wird gleich bei Ihnen sein.“ John setzte sich auf eine Fensterbank in der Wachstube und genoss für einen Augenblick die Stille.

Unvermittelt fiel ihm der Rabe Gworran wieder ein. Ein Diensttelefon war in Griffweite – sollte er dem Ravenmaster doch noch Bescheid geben? Unentschlossen nahm er den Hörer zur Hand. Da öffnete sich die Tür zum Nebenraum.

Der Mann, der eintrat, erschien wie aus dem Ei gepellt. Schuhe, Anzug, Mantel – alles schrie einem geradezu Savile Row entgegen. Mit wenigen Schritten war er bei John, nahm ihm den Hörer aus der Hand und legte ihn mit Nachdruck auf die Gabel.

„Keine Telefonate. Ich brauche deine Zeugenaussage. Jetzt.“

„Ich freue mich auch sehr über unser Wiedersehen, Simon. Wie ich sehe, bist du deinem Schneider treu geblieben. Auch dein Charme ist ganz der alte.“

Sein eisig-höflicher Tonfall gab keinen Hinweis darauf, was in diesem Moment in John Mackenzie vorging. Tatsächlich hätte er Superintendent Simon Whittington – in einem Anfall regressiv-infantiler Tendenzen, wie er sich selbst innerlich tadelte – am liebsten den ausgestreckten Mittelfinger gezeigt.

„Oh, was für ein hübscher Junge!“ Das begeisterte Gurren seiner Verwandten, wenn sie seinen jüngeren Cousin Simon umflatterten, hatte John immer noch im Ohr.

Simon hatte von Beginn an ein bemerkenswertes Talent gehabt, die Menschen in seiner Umgebung, vor allem die weiblichen Geschlechts, um den Finger zu wickeln. Gleichzeitig schaffte er es immer wieder, seine Missetaten anderen in die Schuhe zu schieben.

„Buhuhu, John hat meinem Lieblingsteddy den Kopf abgerissen.“ Mit solchen und ähnlichen Klagen war er theatralisch weinend zu Johns Mutter gelaufen, nachdem er in einem seiner Anfälle von Jähzorn wieder etwas zerstört hatte.

Platzte John oder einem seiner Geschwister einmal der Kragen, hieß es stets, sie müssten doch vernünftig sein, ihr Cousin mache das doch nicht mit Absicht. Zudem habe es der Junge doch schwer mit seiner kranken Mutter und dem Vater, der kaum einmal zu Hause sei. Da sollte man doch etwas großzügiger mit ihm sein.

Tante Vivian, die Schwester von Johns Mutter, war immer von zarter Gesundheit gewesen und hatte viel Zeit in Krankenhäusern verbringen müssen. Dort hatte sie Charles Richard Whittington kennengelernt, der nicht nur ein engagierter Arzt war, sondern dazu noch aus derselben Familie stammte wie der legendäre Bürgermeister der Stadt London im 15. Jahrhundert – wie er auch bei jeder sich bietenden Gelegenheit einfließen ließ. Vivian hatte wenige Jahre nach ihrer Heirat feststellen müssen, dass sich der vielversprechende junge Mann zunehmend in einen vom Ehrgeiz zerfressenen Workaholic verwandelte, der immer weniger in ihrem Heim in Kew vor den Toren Londons anwesend war. Zu ihrer angegriffenen Gesundheit kamen Depressionen. So hatte sie das Angebot ihrer Schwester, sich um ihren Sprössling zu kümmern, dankbar angenommen. Johns Vater, Kurator im Londoner Naturkundemuseum mit einer Leidenschaft für Dinosaurierknochen, hatte nichts dagegen gehabt, wenn sein Neffe die Wochenenden und Schulferien bei ihnen verbrachte. So hatten John und seine beiden Geschwister zähneknirschend mit dem kleinen Tyrannen leben müssen.

Was John am meisten an seinem Cousin hasste, war dessen Vorliebe dafür, Anderen nachzuspionieren. Es war schon für den Eton-Schüler Simon Whittington ein Hauptspaß gewesen, unangenehme Dinge über seine Mitschüler herauszufinden und sie damit unter Druck zu setzen. So hatte er es bereits damals geschafft, sich ein recht angenehmes Leben zu machen, in dem viele seiner Pflichten von seinen geplagten Mitschülern übernommen wurden. Mehr noch als das genoss Simon jedoch das Gefühl der Macht über Andere und er kostete es weidlich aus.

In den Jahren seit John zum Militär gegangen war, waren sie sich nur noch wenige Male bei Familienfeiern begegnet. Hier war Simon immer noch der Star, der nach zahllosen Affären durch seine Heirat mit Patricia Armsworth, einer entfernten Cousine der Herzogin von York und seine steile Karriere bei der Kriminalpolizei für Gesprächsstoff sorgte.

„Er hat ein echtes Gespür dafür, wenn jemand versucht, etwas zu verbergen und er schafft es auch, Geständnisse zu bekommen.“, gestand ihm Johns ältere Schwester Maggie widerwillig zu. Als Staatsanwältin kreuzten sich ihre Wege gelegentlich mit denen des Superintendenten. „Dennoch: Aus dem kleinen Monster von damals hat sich ein intriganter und machthungriger Widerling entwickelt. Ein echtes Rabenaas eben.“

Und nun dieses Wiedersehen. Die beiden Männer starrten sich einen Moment wortlos an. Dann erwiderte der Superintendent mit einem ironischen Lächeln, „Wer hätte soviel modischen Verstand von jemandem erwartet, der sein gesamtes berufliches Leben in einer zweckmäßigen Uniform verbracht hat, die ihm der britische Steuerzahler zur Verfügung gestellt hat?“

Er musterte John betont von oben bis unten.

„Ein Job, der das Tragen dieses lächerlichen Gewandes erfordert, wäre für mich unvorstellbar. Aber für dich war es sicher ein Aufstieg – vom Seelenklempner zum Bewacher der Kronjuwelen.“ Damit drehte er sich um und winkte John, ihm ins Nebenzimmer zu folgen. John unterdrückte erfolgreich den Impuls, seinem Cousin den nächstbesten harten Gegenstand an den Kopf zu werfen und stampfte hinterher.

Der Superintendent setzte sich an einen Tisch und bedeutete John, ihm gegenüber Platz zu nehmen. Ein Constable, der an der Wand saß, einen Block in der Hand, nickte John zu.

„Du kannst dir sicher vorstellen, dass es ein beträchtliches öffentliches Interesse an einer schnellen Aufklärung dieses Falles gibt. Ein gewaltsamer Tod mitten in einem unserer nationalen Wahrzeichen – diese Geschichte wird über unsere Landesgrenzen hinaus für Aufsehen sorgen. Ich bin auf ausdrücklichen Wunsch von höchster Ebene mit den Ermittlungen betraut.“ Selbstgefällig strich Whittington seine Seidenkrawatte glatt. Dann beugte er sich über den Tisch und fixierte John mit einem eindringlichen Blick.

„Also, was weißt du darüber?“

John fühlte sich unversehens wie der Hauptverdächtige eines Kapitalverbrechens.

„Ich weiß fast nichts. Adams und ich haben anhand der Einlassliste den Namen und die Adresse der Toten herausgefunden –“ Ungeduldig winkte Whittington ab.

„Das wissen wir längst. Sie ist eine Austauschstudentin aus Deutschland, wir haben ihre Papiere bei ihr gefunden. Aber du musst doch etwas beobachtet haben. Nach meinen Informationen war dein Dienstbeginn um 22.00 Uhr. Der diensthabende Offizier hat mich darüber unterrichtet, dass du dich eine Minute nach zehn vom Wachhäuschen am White Tower auf den Weg zu deinem Dienst im Byward Tower gemacht hast. Damit musst du die Besuchergruppe passiert haben, die nach dem Ende der Schlüsselzeremonie durch die Water Lane hinausging.“

„Äh…“ John spürte, wie er errötete. „Tatsächlich habe ich kurz nach den Raben gesehen. Während ich beim Gehege war, muss die Gruppe vorbeigekommen sein. Ich … habe nicht aufgepasst.“