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Die Spotttölpel waren die Lieblingsvögel meines Vaters. Wenn wir auf die Jagd gingen, pfiff oder sang er ihnen komplizierte Lieder vor und nach einer höflichen Pause sangen sie sie immer nach. Nicht jeder wird mit solchem Respekt behandelt. Aber wenn mein Vater sang, verstummten alle Vögel in der Gegend und lauschten. Seine Stimme war so schön, voll und klar und so lebendig, dass man zugleich lachen und weinen wollte. Nachdem er fort war, konnte ich mich nicht überwinden, in seine Fußstapfen zu treten. Trotzdem hat der kleine Vogel etwas Tröstliches. Als hätte ich ein Stück von meinem Vater dabei, das mich beschützt. Ich befestige die Brosche an meiner Bluse und mit dem dunkelgrünen Stoff als Hintergrund sieht es fast so aus, als würde der Spotttölpel zwischen Bäumen hindurchfliegen.

Effie Trinket kommt, um mich zum Abendessen abzuholen. Ich folge ihr durch den engen, schaukelnden Gang in einen Speisewagen mit glänzender Wandtäfelung. Das Geschirr auf dem Tisch ist hauchdünn. Peeta Mellark sitzt bereits da und wartet auf uns, der Platz neben ihm ist leer.

»Wo ist Haymitch?«, fragt Effie Trinket fröhlich.

»Als ich ihn das letzte Mal sah, wollte er ein Nickerchen machen«, antwortet Peeta.

»War ja auch ein anstrengender Tag«, sagt Effie Trinket. Ich glaube, sie ist erleichtert über Haymitchs Abwesenheit. Wer könnte es ihr verdenken?

Das Abendessen hat mehrere Gänge. Eine dicke Möhrensuppe, grüner Salat, Lammkoteletts mit Kartoffelpüree, Käse und Obst, Schokoladenkuchen. Die ganze Zeit ermahnt Effie Trinket uns, noch ein wenig Platz übrig zu lassen, weil noch mehr komme. Ich schlage mir trotzdem den Bauch voll, denn so gut und so reichlich habe ich noch nie gegessen. Außerdem ist es bestimmt nicht schlecht, wenn ich bis zu den Hungerspielen ein paar Pfunde zulege.

»Immerhin habt ihr beide anständige Manieren«, sagt Effie Trinket nach dem Hauptgang. »Das Paar vom letzten Jahr aß alles mit den Händen, wie die Wilden. Das hat meine Verdauung völlig durcheinandergebracht.«

Das Paar vom letzten Jahr waren zwei Kinder aus dem Saum, die nie, nicht einen Tag in ihrem Leben, genug zu essen gehabt hatten. Und wenn sie zu essen hatten, waren Tischmanieren mit Sicherheit das Letzte, woran sie dachten. Peeta ist Bäckersohn. Prim und ich haben von Mutter beigebracht bekommen, wie man anständig isst, und deshalb kann ich tatsächlich mit Messer und Gabel umgehen. Aber ich finde Effie Trinkets Kommentar so abscheulich, dass ich den Rest der Mahlzeit absichtlich mit den Händen verspeise. Dann wische ich mir die Hände an der Tischdecke ab. Da wird sie ein wenig schmallippig.

Jetzt, nachdem das Essen beendet ist, habe ich Mühe, es bei mir zu behalten. Peeta ist auch ein bisschen grün im Gesicht. Aber wenn ich Greasy Saes Mischung aus Mäusefleisch, Schweineinnereien und Baumrinde - eine Winterspezialität - runterkriege, dann werde ich hier auch keine Schwäche zeigen.

Wir wechseln in ein anderes Abteil, um die Zusammenfassung der Ernten in ganz Panem anzuschauen. Sie verteilen sie über den ganzen Tag, sodass es den Zuschauern möglich ist, alles live mitzuerleben, aber dazu sind sowieso nur die Bewohner des Kapitols in der Lage. Von ihnen muss ja auch keiner bei einer Ernte dabei sein.

Nacheinander sehen wir die anderen Ernten, hören die Namen, sehen Freiwillige vortreten oder, was häufiger ist, auch nicht. Wir betrachten die Gesichter der Kinder, die unsere Konkurrenten sein werden. Ein paar bleiben mir besonders im Gedächtnis. Ein riesenhafter Junge aus Distrikt 2, der nach vorn stürzt, um sich freiwillig zu melden. Ein Mädchen mit Fuchsgesicht und seidig glänzendem Haar aus Distrikt 5. Ein Junge mit verkrüppeltem Fuß aus Distrikt 10. Und, am ergreifendsten: ein zwölfjähriges Mädchen aus Distrikt 11. Ihre Haut und ihre Augen sind dunkelbraun, aber in Größe und Auftreten ist sie Prim sehr ähnlich. Doch als sie die Bühne erklimmt und nach Freiwilligen gefragt wird, ist nur der Wind zu hören, der durch die baufälligen Gebäude ringsum pfeift. Niemand ist bereit, ihren Platz einzunehmen.

Zuletzt wird Distrikt 12 gezeigt. Wie Prim ausgerufen wird und ich nach vorn renne und mich freiwillig melde. Die Verzweiflung in meiner Stimme ist unüberhörbar, während ich Prim hinter mich schiebe - als hätte ich Angst, sie würden mich nicht hören und Prim mitnehmen. Aber natürlich hören sie mich doch. Ich sehe, wie Gale Prim von mir wegzieht und wie ich auf die Bühne gehe. Die Kommentatoren sind unsicher, was sie dazu sagen sollen, dass die Zuschauer nicht applaudieren wollen. Der stille Gruß. Einer sagt, Distrikt 12 sei immer schon ein wenig rückständig gewesen, wobei lokale Bräuche durchaus auch ihren Charme haben könnten. Wie bestellt fällt Haymitch von der Bühne, woraufhin sie übertrieben stöhnen. Peetas Name wird gezogen und er nimmt schweigend seinen Platz ein. Wir reichen uns die Hände. Schnitt auf die Hymne und die Aufzeichnung ist zu Ende.

Effie Trinket ärgert sich über den Zustand ihrer Perücke.

»Euer Mentor muss noch viel über Moderation lernen. Und darüber, wie man sich im Fernsehen benimmt.«

Da lacht Peeta plötzlich auf. »Er war betrunken«, sagt er. »Er ist jedes Jahr betrunken.«

»Jeden Tag«, füge ich hinzu. Ich kann mir ein kleines Grinsen nicht verkneifen. Bei Effie Trinket klingt es so, als hätte Haymitch nur ein bisschen raue Manieren, die sich mit ein paar guten Tipps korrigieren ließen.

»Ja«, faucht Effie Trinket. »Merkwürdig, dass ihr beide das amüsant findet. Vergesst nicht, dass euer Mentor bei diesen Spielen eure Rettungsleine zur Welt ist. Er ist derjenige, der euch berät, eure Sponsoren organisiert und bestimmt, wann ihr eure Geschenke erhaltet. Haymitch kann für euch den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten!«

Genau in diesem Moment kommt Haymitch ins Abteil getorkelt. »Hab ich das Abendessen verpasst?«, lallt er. Dann erbricht er sich auf den kostbaren Teppich und fällt mitten in die Sauerei.

»Lacht ihr nur!«, sagt Effie Trinket. In ihren spitzen Schuhen hüpft sie um den See aus Erbrochenem herum und flüchtet aus dem Waggon.

4

Ein paar Sekunden lang sehen Peeta und ich dabei zu, wie unser Mentor versucht, sich aus dem ekelhaften Schleim zu erheben, der aus seinem Bauch gekommen ist. Von dem Gestank nach Erbrochenem und reinem Alkohol kommt mir fast das Abendessen hoch. Wir tauschen einen Blick. Von Haymitch ist wirklich nicht viel zu erwarten, aber in einem hat Effie Trinket recht: Wenn wir erst mal in der Arena sind, ist er alles, was wir haben. Wie auf ein Zeichen nehmen Peeta und ich Haymitch bei den Armen und helfen ihm auf die Füße.

»Bin ich gestolpert?«, fragt Haymitch. »Das riecht aber übel.« Er wischt sich mit der Hand über die Nase und beschmiert dabei sein Gesicht mit Erbrochenem.

»Wir bringen Sie in Ihr Abteil«, sagt Peeta. »Ein bisschen sauber machen.«

Halb geleiten, halb tragen wir Haymitch in sein Abteil zurück. Da wir ihn schlecht auf der bestickten Bettdecke absetzen können, hieven wir ihn in die Badewanne und stellen die Dusche an. Er merkt es kaum.

»Ist gut«, sagt Peeta zu mir. »Den Rest übernehme ich.« Unwillkürlich bin ich ein bisschen dankbar, denn ich habe nicht die geringste Lust, Haymitch auszuziehen, das Erbrochene aus seinem Brusthaar zu waschen und ihn ins Bett zu verfrachten. Vielleicht versucht Peeta einen guten Eindruck zu machen, damit er bei den Spielen Haymitchs Favorit ist. Aber so, wie es Haymitch jetzt geht, wird er sich morgen an gar nichts mehr erinnern können.