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Und nun werde ich sterben und das nie mehr in Ordnung bringen können. Ich denke daran, wie ich sie heute im Gerichtsgebäude angeschrien habe. Aber ich habe ihr auch gesagt, dass ich sie lieb habe. Vielleicht kommt dadurch alles wieder ins Lot.

Eine Weile stehe ich da, starre aus dem Zugfenster und würde es am liebsten wieder öffnen, aber ich habe keine Ahnung, was bei so hoher Geschwindigkeit passieren würde. In der Ferne sehe ich die Lichter eines anderen Distrikts. 7? 10? Ich weiß es nicht. Ich denke an die Leute in den Häusern, die jetzt allmählich zu Bett gehen. Ich stelle mir unser Haus vor, mit den fest zugezogenen Läden. Was sie jetzt wohl machen, meine Mutter und Prim? Haben sie das Abendessen heruntergebracht? Die Fischsuppe und die Erdbeeren? Oder ist es unberührt auf ihren Tellern liegen geblieben? Haben sie sich in dem ramponierten alten Fernseher, der auf dem Tisch an der Wand steht, die Zusammenfassung der Tagesereignisse angeschaut? Bestimmt sind noch mehr Tränen geflossen. Bewahrt meine Mutter Haltung, ist sie stark für Prim? Oder driftet sie schon ab und lädt die Last der Welt auf den schwachen Schultern meiner Schwester ab?

Prim wird heute Nacht zweifellos bei meiner Mutter schlafen. Der Gedanke daran, wie Butterblume, der zerzauste alte Kater, sich aufs Bett legt und über Prim wacht, tröstet mich. Wenn sie weint, wird er sich in ihre Arme schleichen und sich dort zusammenrollen, damit sie sich beruhigt und einschläft. Jetzt bin ich unendlich froh, dass ich ihn nicht ertränkt habe.

Beim Gedanken an zu Hause wird mir schmerzlich bewusst, wie einsam ich bin. Dieser Tag war endlos. Haben Gale und ich heute Morgen wirklich noch Brombeeren gegessen? Es kommt mir vor, als wäre es eine Ewigkeit her. Wie ein langer Traum, der in einen Albtraum ausgeartet ist. Wenn ich schlafen gehe, wache ich vielleicht wieder in Distrikt 12 auf, wo ich hingehöre.

Wahrscheinlich sind in den Schubladen jede Menge Nachthemden, aber ich ziehe nur Bluse und Hose aus und steige in Unterwäsche ins Bett. Die Laken sind aus weichem, seidigem Stoff. Eine dicke, kuschelige Bettdecke spendet sofort Wärme.

Wenn ich schon weinen muss, dann ist jetzt der richtige Zeitpunkt. Den Schaden, den die Tränen in meinem Gesicht anrichten, kann ich morgen früh abwaschen. Aber es kommen keine Tränen. Ich bin zu müde oder zu abgestumpft, um zu weinen. Ich spüre nur den Wunsch, woanders zu sein. Also lasse ich mich vom Zug ins Vergessen schaukeln.

Graues Licht sickert durch die Vorhänge, als ein Klopfen mich weckt. Ich höre Effie Trinkets Stimme, die sagt, ich solle aufstehen. »Auf, auf, auf! Das wird ein ganz, ganz großer Tag heute!« Einen Augenblick lang versuche ich mir vorzustellen, wie es im Kopf dieser Frau aussieht. Welche Gedanken füllen ihre wachen Stunden? Welche Träume kommen nachts zu ihr? Ich habe keine Ahnung.

Ich ziehe die grünen Sachen wieder an, weil sie noch nicht schmutzig sind, nur ein wenig verknittert nach der Nacht auf dem Fußboden. Meine Finger fahren den Kreis um den kleinen Spotttölpel nach und ich denke an den Wald und an meinen Vater und an meine Mutter und an Prim, wie sie aufwacht und mit alldem zurechtkommen muss. Ich habe mit der Flechtfrisur geschlafen, die meine Mutter mir für die Ernte gemacht hat, sie sieht noch passabel aus, also lasse ich sie so. Spielt sowieso keine Rolle. Es kann jetzt nicht mehr weit sein bis zum Kapitol. Und wenn wir die Stadt erst einmal erreicht haben, wird sowieso ein Stylist bestimmen, welchen Look ich bei der Eröffnungsfeier heute Abend trage. Ich hoffe nur, er denkt nicht, nackte Haut wäre der letzte Schrei.

Als ich den Speisewagen betrete, hastet Effie Trinket mit einer Tasse schwarzem Kaffee an mir vorbei. Sie flucht leise vor sich hin. Haymitch sitzt mit rotem, aufgedunsenem Gesicht von der gestrigen Sauferei da und kichert vor sich hin. Peeta hat ein Brötchen in der Hand und wirkt peinlich berührt.

»Setz dich! Setz dich!«, sagt Haymitch und winkt mich herbei. Kaum sitze ich auf meinem Stuhl, bekomme ich eine riesige Platte mit Essen serviert. Eier, Schinken, haufenweise Bratkartoffeln. Eine Schale mit Obst steht in Eis, damit die Früchte schön kühl bleiben. Der Brötchenkorb vor mir könnte meine Familie eine Woche lang ernähren. Ein edles Glas mit Orangensaft steht auch da. Zumindest nehme ich an, dass es Orangensaft ist. Ich habe erst einmal eine Orange probiert, an Silvester, als mein Vater als besondere Leckerei eine mitbrachte. Eine Tasse Kaffee. Meine Mutter liebt Kaffee, den wir uns fast nie leisten konnten, aber ich finde, er schmeckt nur bitter und dünn. Und eine Tasse mit einem tiefbraunen Getränk, das ich noch nie gesehen habe.

»Das ist heiße Schokolade«, sagt Peeta. »Ist lecker.«

Ich trinke ein Schlückchen von der heißen, süßen, cremigen Flüssigkeit, und ein Schauer durchfährt mich. Obwohl das übrige Essen lockt, rühre ich es nicht an, bis ich die Tasse ausgetrunken habe. Dann schlinge ich so viel in mich hinein, wie ich bei mir behalten kann, was eine ordentliche Menge ist, und achte darauf, es mit den schweren Speisen nicht zu übertreiben. Meine Mutter hat mal zu mir gesagt, ich äße immer, als ob ich nie mehr etwas bekommen würde. Und ich habe gesagt: »Bekomme ich ja auch nicht, wenn ich es nicht selbst besorge.« Da fiel ihr nichts mehr ein.

Als ich kurz vorm Platzen bin, lehne ich mich zurück und betrachte meine Frühstücksgefährten. Peeta isst immer noch; er bricht Stücke von seinem Brötchen ab und tunkt sie in die heiße Schokolade. Haymitch hat seine Platte kaum angerührt, aber er kippt ein Glas mit rotem Saft hinunter, den er mit einer klaren Flüssigkeit aus einer Flasche verdünnt hat. Den Dünsten nach zu urteilen, ist es irgendein Alkohol. Ich kenne Haymitch nicht, aber ich habe ihn oft genug auf dem Hob gesehen, wo er händeweise Geld auf den Tresen der Frau warf, die klaren Schnaps verkauft. Wenn er so weitermacht, ist er weggetreten, ehe wir das Kapitol erreichen.

Ich merke, dass ich Haymitch verabscheue. Kein Wunder, dass die Tribute aus Distrikt 12 nie eine Chance hatten. Es liegt nicht nur daran, dass wir unterernährt und untrainiert sind. Einige unserer Tribute waren trotzdem stark genug, um erfolgreich zu sein. Aber wir bekommen selten Sponsoren und das liegt zum großen Teil an ihm. Die Reichen, die die Tribute unterstützen - entweder, weil sie auf sie wetten, oder schlicht, um sich hinterher damit brüsten zu können, dass sie auf einen Sieger gesetzt haben -, möchten nichts mit so einer heruntergekommenen Type wie Haymitch zu tun haben.

»Sie sollen uns also mit Rat und Tat zur Seite stehen«, sage ich zu Haymitch.

»Hier hast du einen Rat: Bleib am Leben«, sagt Haymitch und prustet los. Ich tausche einen Blick mit Peeta, doch dann fällt mir wieder ein, dass ich ja nichts mehr mit ihm zu tun habe. Die Härte in seinen Augen überrascht mich. Sonst wirkt er immer so sanft.

»Sehr witzig«, sagt Peeta. Urplötzlich schlägt er Haymitch das Glas aus der Hand. Es zerschellt auf dem Fußboden, die blutrote Flüssigkeit bahnt sich eine Spur zum hinteren Teil des Zuges. »Nur - wir können darüber gar nicht lachen.«

Haymitch überlegt einen Augenblick, dann verpasst er Peeta einen Kinnhaken, der ihn vom Stuhl schleudert. Als Haymitch sich wieder den Schnapsflaschen zuwenden will, stoße ich mein Messer in den Tisch, genau zwischen seiner Hand und der Flasche, und verfehle seine Finger nur um Haaresbreite. Ich bereite mich darauf vor, seinem Schlag auszuweichen, aber es kommt nichts. Stattdessen lehnt Haymitch sich zurück und schaut uns mit zusammengekniffenen Augen an.

»Was haben wir denn da?«, sagt er. »Hab ich dieses Jahr etwa zwei Kämpfer gekriegt?«

Peeta steht auf und klaubt etwas Eis unter der Obstschale hervor. Er will es auf die rote Schwellung an seinem Kinn drücken.

»Nein«, sagt Haymitch und hält ihn zurück. »Die Leute sollen den Bluterguss ruhig sehen. Dann denken sie, du wärst schon mit einem anderen Tribut aneinandergeraten, bevor es überhaupt in die Arena geht.«