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»Das verstößt gegen die Regeln«, sagt Peeta.

»Nur wenn man sich erwischen lässt. Dieser Bluterguss bedeutet, dass du gekämpft hast, und wenn sie dich nicht erwischt haben, umso besser«, sagt Haymitch. Er wendet sich an mich. »Kannst du mit dem Messer da auch noch was anderes treffen als den Tisch?«

Pfeil und Bogen sind meine Waffen. Aber ich habe auch lange Messerwerfen geübt. Manchmal, wenn ich ein Tier mit dem Pfeil nur verwundet habe, ist es besser, auch noch ein Messer hinterherzuwerfen, bevor ich mich ihm nähere. Wenn ich Haymitchs Interesse wecken will, dann ist jetzt die Gelegenheit, Eindruck zu schinden. Ich ziehe das Messer aus dem Tisch, halte es an der Klinge fest und werfe es an die gegenüberliegende Wand. Ich habe eigentlich nur gehofft, dass es stecken bleibt, aber es landet sogar genau zwischen zwei Paneelen und ich stehe da wie ein Ass.

»Stellt euch hierher, alle beide«, sagt Haymitch und deutet mit dem Kopf in die Mitte des Abteils. Wir gehorchen und er umkreist uns und stupst uns ab und zu an wie Tiere, prüft unsere Muskeln, untersucht unsere Gesichter. »Hm, so ganz hoffnungslose Fälle seid ihr nicht. Sieht so aus, als wärt ihr in Form. Und wenn die Stylisten euch erst mal in die Finger kriegen, werdet ihr schon ganz passabel aussehen.«

Peeta und ich hinterfragen das nicht. Die Hungerspiele sind kein Schönheitswettbewerb, aber die attraktivsten Tribute ziehen immer die meisten Sponsoren an.

»Na gut, ich mache einen Deal mit euch. Ihr mischt euch nicht in meine Sauferei ein und ich bleibe nüchtern genug, um euch zu helfen«, sagt Haymitch. »Aber ihr müsst genauestens befolgen, was ich euch sage.«

Das ist nicht nur ein Deal, es ist ein Riesenschritt nach vorn, denn vor zehn Minuten hatten wir noch überhaupt niemanden, der uns führt.

»Prima«, sagt Peeta.

»Dann helfen Sie uns«, sage ich. »In der Arena, vor dem Füllhorn, was ist da die beste Strategie, um …«

»Eins nach dem anderen. In ein paar Minuten fahren wir in den Bahnhof ein. Ihr werdet euren Stylisten übergeben. Es wird euch nicht gefallen, was sie mit euch veranstalten. Doch was es auch ist, lasst es über euch ergehen«, fährt Haymitch fort.

»Aber …«, hebe ich an.

»Kein Aber. Lasst es über euch ergehen«, sagt Haymitch. Er nimmt die Schnapsflasche, die auf dem Tisch steht, und verlässt den Wagen. Als die Tür hinter ihm zuschlägt, wird es dunkel. Ein paar Lichter sind noch an, aber draußen sieht es aus, als wäre plötzlich wieder Nacht. Wir müssen in den Tunnel gefahren sein, der durchs Gebirge hinauf zum Kapitol führt. Die Berge bilden ein natürliches Hindernis zwischen dem Kapitol und den östlich gelegenen Distrikten. Außer durch die Tunnel ist es fast unmöglich, sich von Osten zu nähern. Dieser geografische Vorteil war einer der Hauptgründe dafür, dass die Distrikte den Krieg verloren haben und ich heute ein Tribut bin. Die Rebellen, die die Berge erklimmen mussten, waren leichte Ziele für die Luftwaffe des Kapitols.

Peeta Mellark und ich schweigen, während der Zug seine Fahrt fortsetzt. Der Tunnel ist endlos lang, ich muss an die Tonnen Gestein denken, die mich vom Himmel trennen, und meine Brust zieht sich zusammen. Ich hasse es, so in Stein eingeschlossen zu sein. Es erinnert mich an die Minen und an meinen Vater, wie er in der Falle saß, das Sonnenlicht in unerreichbarer Ferne, für immer in der Finsternis begraben.

Schließlich wird der Zug langsamer und plötzlich strömt gleißendes Licht ins Abteil. Wir können nicht anders, wir stürzen beide ans Fenster und schauen uns an, was wir nur aus dem Fernsehen kennen: das Kapitol, die Herrscherin über Panem. Die Kameras haben ihre Erhabenheit nicht übertrieben. Wenn überhaupt, dann haben sie die Pracht der in allen Farben leuchtenden Gebäude, die in den Himmel ragen, nicht ganz erfasst, die glänzenden Autos, die über die breiten Asphaltstraßen fahren, die eigentümlich gekleideten, wohlgenährten Leute mit wunderlichem Haar und bemalten Gesichtern. Alle Farben wirken künstlich - das Rosa zu satt, das Grün zu knallig und das Gelb schmerzt in den Augen wie die flachen harten Bonbons in dem kleinen Süßwarenladen in Distrikt 12, die wir uns nie leisten können.

Als die Leute den Zug mit den Tributen entdecken, zeigen sie aufgeregt auf uns. Ich trete vom Fenster weg, angewidert von ihrer Begeisterung, denn ich weiß, dass sie es nicht abwarten können, uns sterben zu sehen. Aber Peeta hält die Stellung, er winkt und lächelt der glotzenden Menge sogar zu. Er hört erst damit auf, als der Zug in den Bahnhof einfährt und sie uns nicht mehr sehen können.

Er merkt, wie ich ihn anstarre, und zuckt die Achseln. »Wer weiß?«, sagt er. »Vielleicht ist ein Reicher dabei.«

Ich hatte ihn falsch eingeschätzt. Seit der Ernte denke ich über sein Verhalten nach. Der freundliche Händedruck. Sein Vater, der mit Plätzchen auftaucht und verspricht, für Prim zu sorgen … Hat Peeta ihm das aufgetragen? Seine Tränen am Bahnhof. Wie bereitwillig er Haymitch gewaschen hat, um ihn dann heute Morgen zu provozieren, als die freundliche Tour nicht gewirkt hatte. Und nun das Winken am Fenster, um die Menge für sich einzunehmen, jetzt schon.

All das passt immer noch zusammen, aber ich spüre, dass ein Plan in ihm heranreift. Er hat nicht akzeptiert, dass er sterben soll. Er kämpft bereits um sein Leben. Was auch bedeutet, dass der nette Peeta Mellark, der Junge, der mir einst das Brot geschenkt hat, darauf aus ist, mich zu töten.

5

Riiiieeetsch! Ich beiße die Zähne zusammen, als Venia, eine Frau mit blauen Haaren und goldenen Tattoos über den Augenbrauen, blitzschnell einen Stoffstreifen von meinem Bein zieht, um die Haare auszureißen. »Entschuldigung!«, flötet sie mit ihrem albernen Kapitolakzent. »Aber du hast überall Haare!«

Warum sprechen diese Leute mit so hoher Stimme? Warum machen sie beim Sprechen kaum den Mund auf? Warum geht ihre Stimme am Ende eines Satzes immer in die Höhe wie bei einer Frage? Komische Vokale, abgehackte Wörter und ein zischendes S … Kein Wunder, dass sie immer nachgeäfft werden.

Venia bemüht sich, ein mitfühlendes Gesicht zu machen. »Aber ich habe eine gute Nachricht. Das hier ist der Letzte. Fertig?« Ich halte mich am Rand des Tisches fest, auf dem ich sitze, und nicke. Mit einem schmerzhaften Ruck wird der letzte Rest meiner Beinbehaarung ausgerissen.

Seit über drei Stunden bin ich jetzt schon im Erneuerungsstudio und habe meinen Stylisten immer noch nicht zu Gesicht bekommen. Anscheinend hat er kein Interesse, mich zu sehen, bevor Venia und die anderen Mitglieder meines Vorbereitungsteams nicht gewisse offensichtliche Probleme beseitigt haben. Das heißt, meinen Körper mit einem körnigen Schaum abzuschrubben, der nicht nur den Dreck entfernt hat, sondern auch mindestens drei Schichten Haut, meine Fingernägel in gleichmäßige Form zu bringen und vor allem meinen Körper zu enthaaren. Beine, Arme, Achselhöhlen und Unterarme sind frei von Haaren, auch die Brauen sind gezupft und ich komme mir vor wie ein gerupfter Vogel, bereit für den Grill. Es gefällt mir nicht. Meine Haut fühlt sich wund und prickelnd und extrem verletzlich an. Aber ich habe mich an meinen Teil der Abmachung mit Haymitch gehalten und alles klaglos ertragen.

»Du hältst dich wacker«, sagt ein Typ namens Flavius. Er schüttelt seine orangefarbenen Korkenzieherlocken und bemalt seinen Mund mit einer frischen Schicht lila Lippenstift. »Wenn wir eins nicht leiden können, sind es Heulsusen. Cremt sie ein!«

Venia und Octavia, eine rundliche Frau, deren ganzer Körper in einem blassen Erbsgrün gefärbt ist, rubbeln mich mit einer Lotion ab, die im ersten Moment beißt, dann aber meine aufgeraute Haut beruhigt. Danach holen sie mich vom Tisch herunter und ziehen mir den dünnen Morgenrock aus, den ich anziehen durfte. Da stehe ich nun, splitternackt, während die drei mich umkreisen und mit Pinzetten die letzten Härchenreste beseitigen. Eigentlich müsste es mir peinlich sein, aber sie sind so andersartig, dass es mir so wenig ausmacht, als würde ein Trio seltsam gefärbter Vögel zu meinen Füßen picken.