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Ich spucke die Beeren aus und wische mit dem Jackenzipfel meine Zunge ab, damit nur ja kein Saft zurückbleibt. Peeta zieht mich zum See, wo wir uns den Mund ausspülen und dann einander in die Arme fallen. »Hast du welche geschluckt?«, frage ich ihn. Er schüttelt den Kopf. »Du?«

»Schätze, dann war ich jetzt tot«, sage ich. An seinen Lippen sehe ich, dass er etwas erwidert, aber ich kann ihn nicht verstehen, weil die Lautsprecher live den Jubel der Menge im Kapitol übertragen.

Das Hovercraft erscheint über unseren Köpfen und zwei Leitern fahren herunter. Ich lasse Peeta nicht los. Mit einem Arm stütze ich ihn und jeder setzt einen Fuß auf die erste Sprosse der Leiter. Der elektrische Strom hält uns gefangen und diesmal bin ich froh darum, weil ich nicht weiß, ob Peeta durchhält. Da mein Blick nach unten gerichtet ist, kann ich zusehen, wie das Blut ungehindert aus Peetas Bein fließt, während unsere Muskeln unbeweglich sind. Und wie zu erwarten: Kaum dass die Tür hinter uns zugeht und der Strom abgeschaltet wird, bricht Peeta bewusstlos auf dem Boden zusammen.

Meine Finger halten seine Jacke noch immer so fest, dass ich ein faustgroßes Stück schwarzen Stoff herausreiße, als sie ihn fortbringen. Ärzte in sterilem Weiß mit Mundschutz und Handschuhen stehen schon zur Operation bereit und machen sich ans Werk. Blass und still liegt Peeta auf dem silbernen Operationstisch, Schläuche und Kabel hängen kreuz und quer aus ihm heraus und einen Augenblick lang vergesse ich, dass die Spiele zu Ende sind, und sehe die Ärzte als neue Bedrohung, als Meute von Mutationen, die extra dafür entwickelt wurden, ihn zu töten. Entsetzt stürze ich auf ihn zu, aber jemand fängt mich ein und bugsiert mich in einen anderen Raum, eine Glastür schiebt sich zwischen uns. Ich trommele gegen die Scheibe und schreie mir die Lunge aus dem Hals. Niemand beachtet mich, nur ein Diener des Kapitols erscheint in meinem Rücken und reicht mir etwas zu trinken.

Ich sinke zu Boden, mit dem Gesicht zur Tür, und starre verständnislos auf das Kristallglas in meiner Hand. Eiskalter Orangensaft, ein Strohhalm mit weißem Rüschenkragen. Wie unpassend das aussieht in meiner blutigen, dreckigen Hand mit den Schmutzrändern unter den Nägeln und den Narben. Der Duft lässt mir das Wasser im Mund zusammenlaufen, aber trotzdem stelle ich das Glas vorsichtig auf den Boden - etwas so Sauberes, Hübsches macht mich misstrauisch.

Durch die Scheibe sehe ich, wie die Ärzte mit konzentriert zusammengezogenen Brauen fieberhaft an Peeta arbeiten. Ich sehe die Flüssigkeiten, die durch die Schläuche gepumpt werden, betrachte eine Wand mit Anzeigen und Lämpchen, die mir nichts sagen. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, sein Herz setzt zweimal aus.

Es ist, als wäre ich wieder zu Hause, wenn nach einer Explosion in den Minen ein hoffnungslos zerfetzter Mensch hereingebracht wird, oder die Frau am dritten Tag der Wehen oder das hungernde Kind, das mit einer Lungenentzündung kämpft. Dann haben meine Mutter und Prim auch diesen Gesichtsausdruck. Jetzt ist es Zeit, in den Wald zu rennen, mich zwischen den Bäumen zu verstecken, bis der Patient gestorben ist und in einem anderen Teil des Saums ein Sarg zusammengezimmert wird. Aber hier halten mich die Wände des Hovercrafts und jene Kraft, die Angehörige bei einem Sterbenden ausharren lässt. Wie oft habe ich sie gesehen, rings um unseren Küchentisch, und gedacht: Warum gehen sie nicht weg? Warum wollen sie unbedingt bleiben und zuschauen?

Jetzt weiß ich, warum. Weil sie nicht anders können.

Ich schrecke zusammen, als ich merke, dass jemand mich aus nächster Nähe anstarrt, aber dann begreife ich, dass es mein eigenes Gesicht ist, das sich in der Scheibe spiegelt. Wilde Augen, eingefallene Wangen, mein Haar eine verfilzte Matte. Tollwütig. Verwildert. Irr. Kein Wunder, dass alle auf Abstand gehen.

Als Nächstes merke ich, dass wir auf dem Dach des Trainingscenters landen. Peeta wird fortgebracht, während ich weiter hinter der Tür bleibe. Mit einem gellenden Schrei werfe ich mich gegen die Glasscheibe und sehe flüchtig rosa Haare - das muss Effie sein, ja, Effie, die kommt, um mich zu retten -, als von hinten eine Nadel in mich einsticht.

Als ich aufwache, habe ich zuerst Angst, mich zu bewegen. Die Zimmerdecke schimmert in weichem, gelbem Licht und ich sehe, dass ich in einem Raum liege, in dem nur mein Bett steht. Keine Türen, keine Fenster sind zu sehen. Die Luft riecht irgendwie scharf und antiseptisch. In meinem rechten Arm stecken mehrere Schläuche, die zu der Wand hinter mir führen.

Ich bin nackt, aber die Bettwäsche fühlt sich wohlig auf der Haut an. Probehalber hebe ich den linken Arm über die Bettdecke. Er ist nicht nur vollkommen sauber, auch die Nägel sind zu perfekten Ovalen gefeilt worden, die Brandnarben sind nicht mehr so auffällig. Ich betaste meine Wange, meine Lippen, die runzlige Narbe über der Augenbraue und fahre mit den Fingern durch mein seidiges Haar, als ich erstarre. Ängstlich wühle ich im Haar über meinem linken Ohr. Nein, ich habe mich nicht getäuscht. Ich kann wieder hören.

Ich versuche mich aufzusetzen, aber ein breites Rückhalteband um die Taille lässt mir nur ein paar Zentimeter Bewegungsfreiheit. Panik steigt auf, ich versuche mich hochzuziehen und mich mit der Hüfte durch das Band zu winden. Da wird ein Teil der Wand beiseitegeschoben und das rothaarige Avoxmädchen kommt mit einem Tablett herein. Ihr Anblick beruhigt mich so sehr, dass ich meine Fluchtversuche einstelle. Am liebsten würde ich ihr tausend Fragen stellen, aber ich befürchte, dass ihr schon die kleinste Vertraulichkeit schaden könnte. Offenbar werde ich ja genauestens überwacht. Sie setzt das Tablett über meinen Oberschenkeln ab und drückt einen Knopf, woraufhin ich in eine sitzende Position gehoben werde. Während sie meine Kissen zurechtrückt, riskiere ich eine Frage. Ich spreche sie laut aus, so deutlich es meine eingerostete Stimme erlaubt, damit es nicht geheimniskrämerisch wirkt. »Hat Peeta überlebt?« Sie nickt, und als sie mir den Löffel reicht, drückt sie mir freundschaftlich die Hand.

Dann wollte sie mich wohl doch nicht tot sehen. Und Peeta hat überlebt. Natürlich. Bei der erstklassigen Ausstattung hier. Trotzdem war ich mir bis jetzt nicht sicher.

Geräuschlos schließt sich die Tür hinter dem Avoxmädchen und ich wende mich hungrig dem Tablett zu. Eine Schale klare Brühe, eine kleine Portion Apfelmus und ein Glas Wasser. Das soll alles sein?, denke ich mürrisch. Müsste meine Heimkehrermahlzeit nicht ein wenig spektakulärer ausfallen? Dann aber habe ich schon Mühe, diese karge Mahlzeit aufzuessen. Anscheinend ist mein Magen auf die Größe einer Kastanie zusammengeschrumpft und ich frage mich, wie lange ich eigentlich bewusstlos war, denn am letzten Morgen in der Arena habe ich doch noch mühelos ein ansehnliches Frühstück vertilgt. Gewöhnlich gibt es zwischen dem Ende des Wettkampfs und der Präsentation des Siegers eine mehrtägige Pause, damit das ausgehungerte, verletzte Wrack, zu dem der Mensch geworden ist, wieder zusammengeflickt werden kann. Irgendwo arbeiten Cinna und Portia schon an der Garderobe für unsere Auftritte. Haymitch und Effie arrangieren das Bankett für unsere Sponsoren und besprechen die Fragen für unsere abschließenden Interviews. Zu Hause in Distrikt 12 dürfte ein Chaos ausgebrochen sein, schließlich ist die Willkommensparty, die sie dort für Peeta und mich bestimmt schon organisieren, die erste seit fast dreißig Jahren.

Zu Hause! Prim und meine Mutter! Gale! Sogar bei dem Gedanken an Prims verlotterte alte Katze muss ich lächeln. Bald bin ich zu Hause!

Ich möchte aus diesem Bett raus. Möchte Peeta und Cinna sehen und mehr darüber erfahren, was passiert ist. Warum auch nicht? Mir geht’s gut. Doch als ich mich jetzt endgültig aus dem Band winden will, spüre ich, wie aus einem der Schläuche eine kalte Flüssigkeit in meine Adern sickert, und verliere fast augenblicklich das Bewusstsein.