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Erstaunt ließ ihn Tante Polly los, und Tom hoffte, sie werde ihn jetzt mit tröstendem, wohltuendem Mitleid überschütten. Aber er wurde enttäuscht. Als sie wieder zu Atem kam, sagte sie nur:

„Uff! Na ja, du hast es trotzdem verdient für all deine Streiche, von denen ich nichts weiß."

Kaum waren die Worte heraus, da empfand sie Gewissensbisse, und sie hatte das Bedürfnis, etwas Freundliches oder Liebes zu sagen; aber dann wiederum befürchtete sie, Tom könnte es ihr als Abbitte ihres Unrechts auslegen - und das wollte sie nicht zugeben. Also sagte sie nichts und ging kummervollen Herzens ihrer Arbeit nach.

Tom hockte in einer Ecke und schmollte und übertrieb seine Leiden maßlos. Er wusste, dass seine Tante innerlich vor ihm auf den Knien lag, und bei diesem Gedanken besserte sich seine Laune ein wenig. Er würde mit niemand sprechen, sondern nur still dasitzen. Er wusste, dass sie ihn mit einem abbittenden und tränenverschleierten Blick ansah, aber er bemühte sich, es nicht zu bemerken. Er stellte sich weiter vor, er wäre jetzt todkrank. Seine Tante beugte sich über ihn und flehte um ein kleines verzeihendes Wort - er aber würde sein Gesicht der Wand zukehren und sterben, ohne ihr zu vergeben. Ah, was würde sie dann empfinden?

Und er sah sich, wie man ihn vom Fluss zurücktrug, tot, mit nassen Locken, endlich Frieden in seinem armen Herzen. Wie sie sich über ihn werfen würde und wie ihre Tränen strömen würden und wie sie Gott anrufen würde, ihr ihren Jungen zurückzugeben! Und ganz gewiss würde sie ihn niemals mehr schlagen! Er aber würde daliegen - kalt und weiß und ohne Bewegung, ein armer kleiner Dulder, dessen Leiden endlich zu Ende waren.

Er steigerte sich so sehr in diese dramatischen Träume hinein, dass er immerzu schlucken musste. Tränen stiegen ihm in die Augen, liefen die Wangen hinab und tropften ihm schließlich von der Nase. Als kurz darauf seine Kusine Mary hereintanzte, voll von Leben und glücklich, nach einem ein wöchigen Aufenthalt auf dem Lande wieder zu Hause zu sein, war ihm sein eigener Schmerz so kostbar geworden, dass er es nicht ertragen konnte, sie zu sehen. Still ging er hinaus.

Er hielt sich fern von den anderen Jungen und suchte sich einen einsamen Platz, wo er mit seinen düsteren Gedanken allein sein konnte. Ein langes Floß auf dem Fluss schien ihm geeignet und er setzte sich auf die äußere Kante und starrte in die Flut.

Er wünschte, er würde sofort ertrinken, ohne etwas davon zu merken. Dann dachte er wieder an seine Blume. Er nahm sie aus seiner Jacke, sie war verwelkt und zerknittert, doch augenblicklich verbesserte der Anblick seine finstere Stimmung. Er fragte sich, ob sie ihn bemitleiden würde? Würde sie weinen und ihre Arme um seinen Hals legen und ihn trösten? Oder würde sie sich kalt abwenden wie die ganze Welt? Diese Vorstellung versetzte ihn in eine so trübe, aber doch wieder angenehme Stimmung, dass er die ganze Angelegenheit immer von neuem durchdachte. Schließlich sah er sie in einem ganz neuen Licht, sie erschien ihm jetzt ganz richtig. Endlich erhob er sich seufzend und verschwand in der Dunkelheit.

Gegen zehn Uhr erreichte er die einsame Straße, in der die unbekannte Angebetete wohnte; einen Augenblick hielt er an, aber sosehr er auch lauschte - er konnte keinen Laut vernehmen. Nur schwacher Kerzenschein erhellte ein Fenster des zweiten Stocks. War seine Schöne hinter diesem Fenster? Er stieg über den Zaun und tastete sich vorwärts, bis er unter dem erleuchteten Fenster stand. Lange sah er voll Rührung hinauf und legte sich dann darunter auf die Erde, die Blume in den Händen, die er auf der Brust gefaltet hielt. So wollte er sterben - ausgestoßen in dieser kalten Welt, kein Dach über seinem Haupte. Kein liebes Gesicht würde sich mitleidig über ihn beugen, wenn er mit dem Tode rang. Und so würde sie ihn sehen, wenn sie den jungen Morgen begrüßte, und -oh! würde sie wohl eine kleine Träne über diese arme leblose Hülle vergießen, die einst Tom Sawyer gewesen war?

Plötzlich öffnete sich das Fenster, die misstönende Stimme eines Dienstmädchens zerriss die heilige Stille, und eine Flut von Wasser ertränkte die Überreste des auf dem Boden liegenden Märtyrers. Schnaufend sprang unser Held auf. Ein Wurfgeschoss sauste durch die Luft, begleitet von einem gemurmelten Fluch, ein Geräusch splitternden Glases folgte, und eine kleine, unscheinbare Gestalt sprang über den Zaun und war verschwunden.

Nicht lange danach, als Tom, schon entkleidet, beim flackernden Licht einer Talgkerze seine durchnässten Kleider betrachtete, wachte Sid auf. Falls er jedoch vorgehabt hatte, irgendwelche Anspielungen zu machen, so besann er sich eines Besseren und hielt den Mund, denn Toms Augen versprachen nichts Gutes. Tom schlief ein ohne die übliche Plage des Betens, was Sid stillschweigend zur Kenntnis nahm.

Die Sonne erhob sich über eine ruhige Welt und schickte segnend ihre Strahlen auf das friedliche kleine Städtchen. Nachdem das Frühstück vorüber war, hielt Tante Polly Familiengottesdienst; er begann mit Gebeten aus der Bibel und schloss mit einem geharnischten Kapitel aus dem Buch Mose. Anschließend raffte Tom sich endlich auf, seine Verse für die Sonntagsschule auswendig zu lernen. Sid hatte sie natürlich schon vor Tagen gelernt. Tom nahm all seine Gedanken zusammen, um sich fünf Verse zu merken, und er hatte sich sowieso schon die kürzesten ausgesucht.

Nach einer halben Stunde hatte er eine blasse Vorstellung von dem, was er können musste, aber auch nicht mehr. Mary nahm sein Buch, um ihn abzuhören, und unter vielen Mühen versuchte er aufzusagen: „Selig sind die - die - die..."

„Geistig..."

„Ja - geistig! Selig sind die geistig - geistig..." „Armen... "

„Armen! Also: Selig sind die geistig Armen, denn sie, sie.."„Ihrer... „

„Denn ihrer. Selig sind die geistig Armen, denn ihrer ist das Himmelreich. Selig sind die Leidtragenden, denn sie - sie.."„Sol..."

„Denn sie sol..." „Sollen!"

„Oh, sollen! Denn sie sollen - denn sie sollen - sie sollen was? Warum sagst du es mir nicht, Mary? Warum bist du so gemein und ärgerst mich?"

„O Tom, du dummer Junge, ich will dich doch nicht ärgern! Aber du musst die Verse noch einmal lernen. Lass dich nicht entmutigen, Tom, du wirst es schon schaffen. Ich gebe dir auch etwas sehr Hübsches, wenn du es tust."

„Natürlich, aber was gibst du mir, Mary? Was ist es?"

„Nein, nein, Tom, noch sage ich es dir nicht. Aber du weißt, wenn ich sage, es ist hübsch, dann ist es hübsch."

Also versuchte es Tom noch einmal und Marys versprochenes Geschenk war für ihn ein solcher Ansporn, dass er einen durchschlagenden Erfolg erzielte. Mary gab ihm ein nagelneues Messer, das mindestens zwölf Cent gekostet hatte.

Bald musste er sich für die Sonntagsschule umziehen. Mary gab ihm eine Waschschüssel mit Wasser und ein Stück Seife und er ging hinaus und setzte draußen die Schüssel auf eine Bank, krempelte seine Ärmel hoch, schüttete das Wasser auf die Erde und ging dann in die Küche. Dort, hinter der Tür, begann er, sein Gesicht mit einem Handtuch zu bearbeiten.

Mary beobachtete ihn und sagte: „Dass du dich nicht schämst, Tom! Du musst nicht so ungezogen sein. Das Wasser wird dir nicht weh tun!"

Tom war sehr verlegen. Die Waschschüssel wurde nochmals gefüllt, er betrachtete sie und redete sich selbst Mut zu. Dann holte er tief Atem und begann, sich nochmals zu waschen. Als er nach einer Weile in die Küche kam, beide Augen geschlossen und mit den Händen nach dem Handtuch tastend, war sein Gesicht ganz nass. Mary war allerdings noch immer nicht zufrieden. Sie begann jetzt selbst, ihn zu bearbeiten, und als sie mit ihm fertig war, glänzte er förmlich vor Sauberkeit. Sein Haar war sorgfältig gebürstet und seine kurzen Locken waren mit mathematischer Genauigkeit gelegt. (Er hasste Locken und versuchte heimlich, sie glattzubürsten; denn er hielt Locken für unmännlich.)