Er hatte einen reichen, rauchigen Geschmack, überhaupt nicht vergleichbar mit dem, was ich sonst immer aus Flaschen mit diesem Etikett zu trinken bekam. Von Flaschen mit anderen Etiketts ganz zu schweigen.
Plötzlich fielen mir wieder einige Details aus Organische Chemie I und II ein. Meine sämtlichen Aminosäuren, mit Ausnahme von Glycin, waren linksdrehend gewesen, entsprechend der Symmetrie meiner Proteinhelix. Dasselbe galt für die Nukleotiden, die die Windungen der Nukleinsäuren verursachten. Aber das war natürlich vor meiner Umwandlung gewesen. All meine Gedanken kreisten plötzlich um Stereoisomere und um den Nahrungskreislauf. Es ist nämlich so: Manchmal akzeptiert der Körper rechtsdrehende Substanzen, lehnt aber die linksdrehenden Komponenten ab, manchmal ist es umgekehrt. Manchmal werden auch beide Komponenten angenommen, aber dann dauert der Verdauungsprozeß bei einer Variante länger. Ich bemühte mich, mich an spezielle Beispiele zu erinnern. Mein Bier enthielt Äthylalkohol, C2H5OH … In Ordnung, dieses Molekül war symmetrisch. Das zentrale Kohlenstoffatom war mit zwei Wasserstoffatomen verbunden. Umgewandelt oder nicht, ich würde in beiden Fällen einen Rausch davon bekommen. Warum hatte dann alles einen anderen Geschmack? Die Aromastoffe, ja. Bei ihnen handelte es sich um asymmetrische Ester, die nun meine Geschmacksnerven ganz anders anregten. Und auch mein olfaktorischer Apparat mußte sich ab sofort mit ‚umgekehrtem’ Zigarettenrauch befassen. Ich würde zu Hause als erstes einmal ein paar wesentliche Dinge nachschlagen müssen. Da ich nicht wußte, wie lange meine Existenz als Spiegelmensch dauern würde, wollte ich mich auf keinen Fall der Gefahr einer Vergiftung aussetzen, wenn sie bestand.
Ich trank das Bier aus. Im Verlauf der sehr langen Busfahrt konnte ich mich näher mit diesem Phänomen auseinandersetzen. In der Zwischenzeit schien es mir angebracht, noch ein wenig umherzupromenieren und aufzupassen, ob ich verfolgt wurde. Ich lief die nächsten fünfzehn bis zwanzig Minuten kreuz und quer hin und her, konnte aber keinen Verfolger aufspüren.
Dann ging ich zurück zur Bushaltestelle, um meinen Stereoisobus nach Hause zu nehmen.
Schläfrig mit dem Bus durch die weite Landschaft tuckernd, ließ ich meine Gedanken durch die Straßen meines Verstandes paradieren, stocherte gelegentlich auch einmal in älteren Erinnerungen und lauschte dem Pochen der Narrentrommeln in meinen Schläfen. Ich hatte die mir übertragene Aufgabe erledigt. Aber von wem war sie mir übertragen worden? Nun, der Betreffende hatte gesagt, er sei eine Aufzeichnung, aber er hatte mich mit dem Wissen um Artikel 7224, Absatz C versorgt, als ich es benötigt hatte – und jeder, der mir in der Not beisteht, gehört automatisch zu den Guten, bis er sich eindeutig zu erkennen gibt. Ich fragte mich, ob ich mich für unseren nächsten Kontakt wieder betrinken sollte, oder ob er dieses Mal etwas anderes mit mir vorhatte. Denn selbstverständlich mußte es einen weiteren Kontakt geben. Er hatte deutlich gemacht, daß meine Zusammenarbeit in dieser Frage zu einer Klärung der gegenwärtigen Situation führen würde. Also gut, das hatte ich ihm abgekauft. Ich hatte meine Umkehrung nur auf sein Wort hin in gutem Glauben durchgeführt. Jeder andere hatte etwas verlangt, das ich nicht erfüllen konnte, und mir aber auch nicht das geringste dafür geboten.
Wenn ich einschlief, würde ich dann eine weitere Botschaft erhalten? Oder war mein Alkoholspiegel dafür zu niedrig? Was für ein Zusammenhang bestand da überhaupt? Sibla schien der Überzeugung zu sein, Trunkenheit würde einen telepathischen Kontakt eher erschweren als erleichtern. Warum war mein Korrespondent dann bei den zwei Gelegenheiten, wo ich betrunken gewesen war, so klar und deutlich durchgekommen? Wäre da nicht der ganz offensichtliche Effekt von Artikel 7224, Absatz C gewesen, fiel mir plötzlich ein, dann hätte ich überhaupt keine Möglichkeit gehabt, die Botschaften von normalen Halluzinationen im Zustand der Volltrunkenheit zu unterscheiden. Ich hätte sie höchstens als beste Möglichkeit, einen hochakuten Todeswunsch auszudrücken, ansehen können. Aber an der ganzen Sache mußte mehr sein. Sogar Charv und Ragma argwöhnten bereits die Existenz meines übernatürlichen Gesprächspartners. Ich fühlte ein seltsames Drängen, den Wunsch, das, was unbedingt getan werden mußte, so schnell wie möglich zu tun, bevor die Außerirdischen den Plan durchschauten wie er auch immer aussehen mochte. Ich war sicher, sie würden sich in unsere Kommunikation einmischen, wenn nicht gar versuchen, sie zu unterbinden.
Wie viele mochten es wohl sein, die mich belagerten und beobachteten? Wo waren Zeemeister und Buckler? Was führten Charv und Ragma im Schilde? Wer war der Mann im dunklen Mantel, den Merimee gesehen hatte? Welche Rolle spielte der Mann vom Innenministerium? Da ich auf keine der Fragen eine Antwort wußte, beschloß ich, meine weiteren Unternehmungen selbst zu planen und dabei immer mit dem Schlimmsten zu rechnen. Selbstverständlich würde ich nicht in meine Wohnung zurückgehen. Auch Hals Wohnung schien mir zu risikoreich, nach allem, was er erzählt hatte. Ralph Warp konnte mich wahrscheinlich für eine gewisse Zeit bei sich aufnehmen, überlegte ich. Schließlich war ich ja auch zur Hälfte an Woof & Warp, seinem Kunstlädchen, beteiligt; früher hatte ich sogar dort im Hinterzimmer gehaust. Ja, das würde ich tun.
Die Geister der Vergangenheit fielen plötzlich wie Lawinen auf mich herab, ich wurde zerschmettert. Da ich auf weitere Nachrichten hoffte, bekämpfte ich den Drang nicht. Aber ich wurde nicht mit einer weiteren Botschaft belohnt, während ich in meinem Sitz vor mich hindöste. Statt dessen hatte ich einen Alptraum.
Ich träumte, ich wäre wieder in der grellen Sonne festgebunden, schwitzend, durstig und mit verbrannter Haut. Diese Illusion erreichte ihren teuflischen Höhepunkt, wurde dann schwächer, bis sie ganz verblaßte. Ich befand mich auf einem Eisberg, meine Zähne klapperten, meine Gliedmaßen wurden taub. Auch das ging vorbei, danach verkrampften alle meine Muskeln sich abwechselnd von Kopf bis Fuß. Dann war ich ängstlich. Dann zornig. Entmutigt. Hoffnungsvoll. Verzweifelt. Mit gefesselten, nackten Beinen passierte ich die ganze Gefühlsskala. Das war kein Traum …
„Mister, geht es Ihnen gut?“
Eine Hand lag auf meiner Schulter – aus diesem Traum oder einem anderen?
„Geht es Ihnen gut?“
Ich erschauerte. Ich fuhr mir mit einer Hand über die Stirn. Sie war naß.
„Ja“, sagte ich. „Danke.“
Ich betrachtete den Mann. Älter. Hübsch angezogen. Wahrscheinlich unterwegs, um seine Enkelkinder zu besuchen.
„Ich saß Ihnen gegenüber, auf der anderen Seite“, sagte er. „Es sah aus, als würde es Ihnen nicht besonders gutgehen.“
Ich rieb mir die Augen, fuhr mit einer Hand durch mein Haar, berührte mein Kinn. Ich hatte gesabbert.
„Schlecht geträumt“, sagte ich. „Vielen Dank für das Aufwecken. Alles wieder in Butter.“
Er lächelte mir andeutungsweise zu, dann zog er sich wieder zurück.
Verdammt! Das mußte ein Nebeneffekt der Umwandlung sein. Ich zündete mir eine komisch schmeckende Zigarette an und sah auf meine Uhr. Nachdem ich das seitenverkehrte Zifferblatt gedeutet und ein paar Minuten Falschgehen eingerechnet hatte, kam ich zu dem Ergebnis, daß ich etwa eine halbe Stunde gedöst haben mußte. Ich starrte zum Fenster hinaus, sah die vorbeihuschenden Kilometersteine, und plötzlich fürchtete ich mich. Was wäre, wenn die ganze Sache sich als schlechter Scherz entpuppen würde, als entsetzliches Mißverständnis? Die kurze Episode, die mir gerade widerfahren war, hatte mich zu der Überzeugung gebracht, mich selbst unüberlegt in eine sehr mißliche Situation hineinmanövriert zu haben. Subtile Veränderungen, die sich erst langsam bemerkbar machten, konnten in mir ablaufen; gefährliche Veränderungen. Aber nun war es zu spät. Ich bemühte mich, den Glauben an meinen Freund, den Aufzeichnungsspeicher, nicht zu verlieren. Zudem war ich davon überzeugt, daß die Rhenniusmaschine das, was sie getan hatte, auch wieder umkehren konnte, sollte es nötig sein. Dazu bedurfte es lediglich eines Menschen, der verstand, worum es ging.