„Ja? Hallo?“
„So weit kannst du doch nicht gelaufen sein. Wieso bist du so außer Atem?“
„Fred! Endlich, verflixt und zugenäht!“
„Tut mir leid, daß ich nicht früher angerufen habe. Ich hatte jede Menge zu erledigen …“
„Ich muß dich sehen!“
„Dasselbe gilt auch für mich.“
„Wo bist du jetzt?“
„In der Mensa.“
„Bleib dort. Nein! Warte mal einen Moment.“
Ich wartete. Zehn bis fünfzehn Sekunden verstrichen.
„Ich versuche mich an einen Ort zu erinnern, an den du dich auch erinnern kannst“, sagte er. Dann: „Hör zu. Erinnerst du dich noch an die Stelle, wo du vor zwei Monaten den Streit mit diesem Medizinstudenten gehabt hast? Ken hieß er, war immer sehr ernst.“
„Nein“, antwortete ich.
„Ich erinnere mich nicht mehr an den Streit, aber ich erinnere mich an den Ausgang. Du hast gesagt, Doktor Richard Jordan Gatling hätte mehr für die Entwicklung der modernen Chirurgie getan als Halsted. Er fragte nach den Techniken, die Gatling eingeführt habe, darauf hast du ihm geantwortet, er habe das Maschinengewehr erfunden. Er sagte, das sei überhaupt nicht komisch und lief weg. Du hast ihm daraufhin nachgerufen, er sei ein Arschloch, das glaube, am Studienende den Heiligen Gral zu bekommen und nicht eine Lizenz, um den Leuten zu helfen. Erinnerst du dich jetzt?“
„Ja.“
„Gut. Geh dorthin und warte. Bitte.“
„Schon gut. Ich verstehe.“
Er legte auf, ich ebenfalls. Merkwürdig. Und besorgniserregend. Ganz offensichtlich ein Manöver, um einem heimlichen Lauscher mitzuteilen, wo wir uns treffen wollten. Aber wem? Warum? Wie viele würden kommen?
Ich beeilte mich, die Mensa zu verlassen, da ich sie ja während des Gesprächs erwähnt hatte. Ich entfernte mich drei Blocks in nördlicher Richtung vom Campus. Dann zwei Blocks nach links, eine kleine Seitenstraße hoch. Dort befand sich ein kleiner Buchladen, wo ich hin und wieder einmal hinging, nur um nachzusehen, was für neue Titel hereingekommen waren. Hal begleitete mich manchmal.
Ungefähr eine halbe Stunde hielt ich mich dort auf und studierte die spiegelverkehrten Buchtitel. Hin und wieder las ich auch eine Seite eines Textes, nur um Übung darin zu bekommen – für den Fall, daß die Dinge längere Zeit auf dem Kopf stehen sollten. Der erste Satz in einer Ausgabe von von einem
gewann eine sehr persönliche Bedeutung für mich:
Ich begann an mein eigenes Selbst zu denken, die Scherben überall verstreut, vom Drückeberger zum Helden, und weiter. War es wirklich lohnend gewesen, durch den Spiegel zu gehen, fragte ich mich. Ich hatte es nie wirklich versucht. Aber dann …
Ich dachte schon daran, das Buch zu kaufen, als ich eine Hand auf meiner Schulter spürte.
„Fred, komm mit.“
„Hallo, Hal. Ich fragte mich schon …“
„Rasch“, bat er. „Bitte. Ich parke in zweiter Reihe.“
„Komme schon.“
Ich stellte das Buch ins Regal zurück und folgte ihm hinaus. Ich sah den Wagen, ging hinüber und stieg ein. Hal stieg ebenfalls ein und fuhr los. Er sagte kein Wort, während er den Wagen durch den dichten Verkehr lenkte. Das war verdächtig. Der erste Satz der Dream Songs ging mir noch immer im Kopf herum. Ich zündete mir eine Zigarette an und sah zum Fenster hinaus.
Er fuhr mehrere Minuten, bis wir den verkehrsreichen Straßenabschnitt hinter uns gelassen hatten. Erst dann sprach er.
„In der Notiz hast du geschrieben, du hättest einen Einfall gehabt und wolltest dich sofort darum kümmern. Ich nehme an, dabei ging es um den Stein?“
„Es ging um den ganzen Schlamassel“, antwortete ich, „daher wohl auch um den Stein. Aber ganz sicher bin ich mir nicht.“
„Würdest du mir bitte alles von Anfang an erzählen?“
„Was ist denn mit deinen dringenden Angelegenheiten, von denen du sprachst?“
„Zuerst möchte ich alles erfahren, was dir zugestoßen ist, klar?“
„Schon gut. Wohin fahren wir eigentlich?“
„Augenblicklich fahren wir nur so herum. Bitte erzähl mir alles, von dem Moment an, als du meine Wohnung verlassen hast.“
Das tat ich dann auch. Ich redete und redete, die Gebäude blieben rechts und links hinter uns zurück, wurden immer spärlicher, bis sie von Gras abgelöst wurden, zu dem sich bald niederes Buschwerk gesellte, dann Bäume, hin und wieder eine Kuh, Felsbrocken und gelegentlich einmal ein Karnickel. Hal hörte zu, nickte, stellte manchmal eine kurze Frage, fuhr aber unbeirrt weiter.
„Dann sieht es also im Augenblick für dich so aus, als würde ich das Auto auf der falschen Seite fahren?“
„Ja.“
„Faszinierend.“
Ich bemerkte jetzt erst, daß wir zum Meer fuhren, durch ein von Sommerhäuschen durchsetztes Gebiet, von denen die meisten allerdings um diese Jahreszeit verlassen waren. Gefesselt von meiner eigenen Geschichte, hatte ich die Zeit vollkommen vergessen; wir waren schon über eine Stunde unterwegs, immer in Richtung Meer.
„Und nun hast du einen bombensicheren Doktortitel?“
„Das habe ich doch gesagt.“
„Sehr seltsam.“
„Hal, du versuchst, Zeit zu gewinnen. Was willst du mir denn nicht erzählen?“
„Schau auf den Rücksitz.“
„Na schön. Dort liegt eine Menge Gerumpel, wie üblich. Du solltest wirklich einmal aufräumen …“
„Die Jacke in der Ecke. Es ist in die Jacke eingewickelt.“
Ich holte die Jacke nach vorn und entrollte sie.
„Der Stein! Du hattest ihn die ganze Zeit!“
„Nein, hatte ich nicht“, widersprach er.
„Wo hast du ihn gefunden? Wo war er?“
Hal fuhr in eine Seitenstraße. Ein paar Möwen flatterten aufgeschreckt davon.
„Schau ihn dir an“, befahl er. „Sieh ihn dir genau an. Das ist er doch, oder?“
„Klar, sieht ganz so aus. Ich habe mir das Ding aber nie vorher genau angesehen.“
„Das muß er sein. Ich habe ihn eben einfach in einer Truhe gefunden, in der ich noch nicht nachgesehen hatte. Glaub mir diese Version. Und halte dich daran!“
„Was soll das heißen: ,Halte dich daran’?“
„Ich bin letzte Nacht in Bylers Labor eingestiegen und habe ihn geholt. Es waren noch einige da. Der hier ist so gut wie derjenige, den er uns gegeben hat. Du kannst sie doch nicht unterscheiden, nicht wahr?“
„Nein, aber ich bin kein Experte. Was geht hier vor?“
„Mary wurde entführt“, sagte er.
Ich sah ihn an. Sein Gesicht war ausdruckslos, wie es immer war, wenn er die Wahrheit sagte.
„Wann? Wie?“
„Wir hatten eine Meinungsverschiedenheit, und sie ging zu ihrer Mutter, damals, in der Nacht, als du gekommen bist …“
„Ja, ich erinnere mich.“
„Ich wollte sie am nächsten Tag anrufen und die Wogen ein wenig glätten. Aber je länger ich darüber nachdachte, desto besser gefiel mir die Idee, wenn sie zuerst anrufen würde. Auf diese Weise konnte ich einen kleinen moralischen Sieg davontragen, dachte ich damals. Daher wartete ich. Mehrere Male war ich nahe daran anzurufen, aber ich schob es immer wieder hinaus – in der Hoffnung, sie würde anrufen. Das tat sie aber nicht, ich ließ viel zu viel Zeit verstreichen. Es war spät, sehr spät, daher beschloß ich, noch eine Nacht darüber zu schlafen. Am nächsten Morgen rief ich bei ihrer Mutter an. Sie war nicht da, sie war nie angekommen. Ihre Mutter hatte nicht einmal etwas von ihr gehört. Na schön, sie hat eine gute Portion gesunden Menschenverstands, beruhigte ich mich selbst. Sie will aus der ganzen Angelegenheit keine Familienaffäre machen. Sie hat ihre Meinung geändert und ist zu einer ihrer Freundinnen gegangen. Ich rief sie alle der Reihe nach an. Nichts. Ich war verzweifelt.