Da geschah die Katastrophe!
Die Netze, Reusen und Seile über uns gerieten in Bewegung, schabend und raschelnd fielen sie auf Paul herab. Er warf den Kopf hoch, seine Hand zitterte, in diesem Moment riß Jamie seine Waffe aus dem Gürtel. Er richtete sie auf Paul. Der war mit den Netzen beschäftigt.
Reflexe, die ich normalerweise vergesse, wenn ich meinen Verstand beisammen habe, ließen mich eine Entscheidung treffen, für die ich keine Verantwortung übernehmen möchte. Wäre zusätzlich zu meinen Nerven auch noch der Verstand eingeschaltet gewesen, dann hätte ich mich gehütet, einen Mann mit einer Waffe anzuspringen.
Aber das würde doch die Situation wieder zu unseren Gunsten entscheiden oder nicht? In den Krimiserien der populären Unterhaltung ist das jedenfalls immer so.
Mit ausgestreckten Armen sprang ich Jamie an.
Seine Hand zitterte einen unentschlossenen Moment lang, dann schwang er die Pistole in meine Richtung und feuerte.
Meine Brust explodierte, die Welt kippte unter mir weg.
Soviel zur populären Unterhaltung.
9
Manchmal ist es gut, periodische Ruhepausen einzulegen und über die Vorzüge, die das moderne Ausbildungssystem mit sich bringt, nachzudenken.
Ich glaube man kann alles auf meinen Schutzpatron, President Eliot von Harvard, zurückführen, der im Jahre 1870 den Einfall hatte, daß es von Vorteil sein könnte, die akademische Zwangsjacke ein wenig lockerer zu schnallen. Das hatte er getan, zudem hatte er vergessen, die Tür wieder hinter sich zu schließen, als er den Raum verlassen hatte. Nahezu dreizehn Jahre lang hatte ich ihm regelmäßig mit Dankbarkeitsbezeigungen gehuldigt, wenn ich den Briefkasten geöffnet hatte, der meinen monatlichen Scheck enthielt. Er war derjenige gewesen, der das Auswahlverfahren eingeführt hatte, das zu damaligen Zeit den Weg zur freien Studienwahl geebnet hatte. Und wie immer blieb die Entwicklung natürlich nicht dabei stehen. Sie führte schließlich dazu, daß es mir heute ermöglicht wurde, dem Stern des Wissens in immer wieder neue Regionen der Wissenschaft zu folgen und immer wieder neue, andere Fächer zu studieren. Mit anderen Worten, wäre er nicht gewesen, dann hätte ich wohl nie Zeit und Gelegenheit gehabt, solche Dinge zu erforschen wie die Lebensgewohnheiten von ophrys speculum und cryptostylis leptochila, auf die ich während einer Botanikvorlesung gestoßen war, die ich unter anderen Umständen vielleicht nie besucht hätte. Wenn man es so betrachtete, dann verdanke ich dem Mann meine ganze Lebensweise und viele angenehme Dinge, die sich damit verbanden. Ich bin nicht undankbar. Aber da ich ihm ja leider nichts mehr zurückzahlen kann, akzeptiere ich die Vorzüge, die er mir beschert hat, frei und rückhaltlos.
Aber wer ist Ophrys? Was ist sie? Wieso schwärmen alle Verehrer von ihr? Und Cryptostylis? Es ist schön, daß Sie diese Fragen gestellt haben. In Algerien lebt ein wespenähnliches Insekt, das als scolia ciliata bekannt ist. Es schläft lange Zeit in seinem Bau, meistens einer Sandbank, bis es, ungefähr im März, an das Licht des Tages kommt. Die Weibchen der Spezies aber bleiben, was sich nicht nur auf die Hymenopteren beschränkt, noch einen weiteren Monat in ihrem Versteck. Verständlicherweise werden die Männchen in dieser Zeit unruhig, sie fangen an, überall im Land umherzuschwärmen. Und ha! Was sollten sie in dieser Zeit der erzwungenen Enthaltsamkeit schon anderes sehen als die zauberhafte Orchidee ophrys speculum, deren Blüten auf verblüffende Weise den Körpern der weiblichen Insekten ähneln. Den Rest kann sich nun wohl jeder selbst denken. Auf diese Weise sichert die Orchidee ihre Befruchtung. Oakes Arnes bezeichnete diesen Vorgang als Pseudokopulation, die symbiotische Assoziation zweier verschiedener reproduktiver Systeme. Die Orchidee cryptostylis leptochila zieht die Männchen der Schlupfwespe lissopimpla semipunctata mit demselben Trick an und auch aus denselben Gründen, indem die Blüte einen Duftstoff absondert, der an den der Weibchen der Schlupfwespe erinnert. Unvergleichlich! Wunderbar! Vollkommenheit, im reinsten, philosophischen Sinne. Darin liegt der Sinn der ganzen Ausbildung. Wären nicht President Eliot und mein armer, steif gefrorener Onkel Albert, ich hätte all dies niemals kennenlernen können. Diese beiden haben mein gesamtes Dasein erleuchtet.
So gingen mir zum Beispiel, während ich dort lag und noch immer nicht wußte, wo dort eigentlich war, Erinnerungen an frühere Vorlesungen über Orchideen durch den Kopf, während ich gleichzeitig jede Menge ungewohnte Geräusche hörte und die merkwürdigsten Farben und Formen wahrnahm. Rasch gelangte ich zu Schlußfolgerungen wie: Die Dinge sind nicht immer das, was sie zu sein scheinen, aber manchmal spielt das keine Rolle. Oder: Man kann schon in die dümmsten Situationen kommen, wenn man nicht seinem gesunden Menschenverstand folgt.
Zu diesem Zeitpunkt testete ich bereits mit aller gebotenen Behutsamkeit meine Umgebung.
„Auaaua! Auaau!“ und „Auuuu!“ sagte ich dann anschließend, ich weiß nicht wie lange, bis meine Umgebung antwortete, indem sie mir ein Thermometer in den Mund steckte und meinen Puls fühlte.
„Sind Sie wach, Mister Cassidy?“ fragte eine feminine bis neutrale Stimme.
„Schluck!“ antwortete ich, brachte das Gesicht der Krankenschwester in einen ordentlichen Fokus, gab diesen Vorsatz aber wieder auf, als ich es deutlich gesehen hatte.
„Sie sind ein sehr glücklicher Mann, Mister Cassidy“, sagte sie, als sie das Thermometer wieder wegnahm. „Ich werde sofort den Doktor holen. Er möchte unbedingt mit Ihnen sprechen. Bleiben Sie schön liegen. Nicht anstrengen.“
Da ich nicht in der Stimmung war, Purzelbäume zu schlagen, fiel es mir nicht schwer, ihren letzten Ratschlag zu befolgen. Ich fokussierte meine Umgebung noch einmal, und dieses Mal behielt ich den klaren Blick. Meine Umgebung erwies sich als Krankenzimmer, ich lag auf einem Bett an der Wand, unter einem Fenster. Ich selbst lag flach auf dem Rücken und erkannte ziemlich rasch, in welchem Ausmaß meine Brust bandagiert war. Ich winselte, als ich an das Entfernen des Verbandes dachte. Die Unverstümmelten haben kein Monopol auf die Hoffnung.
Wenige Augenblicke später, so schien es mir, kam ein Mann im unumgänglichen weißen Kittel, ein Stethoskop in der Tasche, herein, entblößte die Zähne zu einem Grinsen und schob dieses zu mir herüber. Er beförderte sein Klemmbrett von einer Hand in die andere und streckte jene mir hin. Ich dachte zuerst, er wolle meinen Puls fühlen, aber statt dessen schüttelte er nur meine eigene Hand.
„Mister Cassidy, ich bin Doktor Drade“, sagte er. „Wir haben uns schon früher kennengelernt, aber daran werden Sie sich kaum erinnern. Ich habe Sie operiert. Ihr Händedruck ist schon wieder sehr kräftig, das freut mich. Sie können sich sehr glücklich schätzen.“
Ich hustete, das bereitete mir Schmerzen.
„Gut zu wissen“, sagte ich.
Er hob das Klemmbrett.
„Da Ihre Hand in einem so guten Zustand ist“, meinte er, „könnten Sie mir vielleicht einige Formulare unterschreiben?“
„Einen Moment“, sagte ich. „Ich habe noch keine Ahnung, was überhaupt geschehen ist. Das möchte ich zuallererst einmal erfahren.“
„Oh, die üblichen Formalitäten werden selbstverständlich erst abgewickelt, wenn Sie wieder völlig auf dem Damm sind. Dies gibt mir lediglich die Erlaubnis, Ihren Krankenbericht sowie einige Fotos, die ich glücklicherweise während des Eingriffs machen konnte, für einen Artikel zu verwenden, den ich schreiben möchte.“
„Was für ein Artikel?“ fragte ich.
„Ein Artikel, der den Grund erklärt, warum ich Sie einen Glückspilz nennen möchte. Wie Sie wissen, wurden Sie von einem Schuß in die Brust getroffen.“