Plötzlich merkte ich, wie ich mich auf meine Arbeit freute. Ich wollte sie haben. Ich gab mich keinen Illusionen darüber hin, warum ich eingestellt worden war, aber nun, da ich den Fuß zwischen Tür und Angel hatte, wollte ich auch den letzten Schritt noch tun und wirklich arbeiten. Es kam mir vor, als hätte ich mich die ganze Zeit über nur auf außerirdische Anthropologie (Xenologie, wie man es wohl richtiger nennen müßte) vorbereitet. Ich kicherte. Augenblicklich freute ich mich nur, aber ich hatte das dumpfe Gefühl, daß ich mit dieser Arbeit auch glücklich werden könnte.
Da ich mich inzwischen etwas mehr an meinen inversen Zustand gewöhnt hatte, fand ich es nicht mehr besonders schwer, ein Steroisoauto zu fahren. Ich kam bei jedem Stop-Schild vorschriftsmäßig zum Halten, und als ich die Stadtgrenze erst einmal hinter mir gelassen hatte, hatte ich überhaupt keine Probleme mehr mit dem Verkehr. Das einzige, was mir seit meiner Inversion wirklich Schwierigkeiten machte, war das Rasieren. Mein traumatisiertes Nervensystem hatte auf das umgekehrte Spiegelbild meines umgekehrten Gesichtes mit zittrigen Fingern reagiert, die wiederum zu diversen blutenden Schnitten geführt hatten. Daher griff ich zum Elektrorasierer. Damit war es zwar immer noch ein ganz spezielles Erlebnis, aber wenigstens war die Verletzungsgefahr geringer, was meinem Gesicht sehr zugute kam.
Während ich dem Spiegelglas meine Grimassen schnitt und mir selbst zulächelte, hatte ich mich an ein einziges Fragment aus meinen nächtlichen Träumen erinnert. Da war dieses Lächeln. Wessen Lächeln? Ich habe keine Ahnung. Es war einfach ein Lächeln, etwas oberhalb der Linie, wo die Dinge anfangen, einen Sinn zu haben. Es ging mir nicht mehr aus dem Kopf; zwar wurde es manchmal in den Hintergrund gedrängt, aber es kehrte mit regelmäßiger Stetigkeit wieder zurück.
Während ich der Route folgte, die ich erst vor kurzem mit Hal zusammen gefahren war, versuchte ich, mir meine eigenen Gedanken darüber zu machen, da Doktor Marko gerade nicht zur Verfügung stand.
Aber etwas anderes als die „Mona Lisa“ fiel mir nicht ein. In psychoanalytischen Begriffen gedacht, gefiel mir das überhaupt nicht. Ich wußte, dieses Bild war im Tausch gegen die Rhenniusmaschine hergegeben worden. Da konnte ein andeutungsweiser Zusammenhang bestehen – zumindest in meinem Unterbewußtsein –, oder ich hatte ganz einfach Halluzinationen, hervorgerufen durch Koinzidenz und Imagination. Bei so etwas konnte ein Dali, ein Ernst oder ein Da Vinci schon einmal ins Spiel kommen.
Kopfschüttelnd konzentrierte ich mich wieder auf den Weg. Der Morgen war bereits verstrichen, als ich an die Seitenstraße kam und abbog.
Ich parkte den Wagen dort, wo wir auch beim ersten Mal gestanden hatten, und folgte dem Trampelpfad zur Hütte. Ich beobachtete sie einige Zeit im Verborgenen, konnte aber kein Anzeichen von Leben ausmachen. Ragma hatte mir angeraten, Situationen zu meiden, bei denen es Arger geben konnte, aber das hier schien keine solche zu sein.
Ich näherte mich der Hütte von hinten, bis ich vor dem rückwärtigen Fenster stand, durch das Paul eingetreten sein mußte. Ja. Der Rahmen war gebrochen. Im Innern sah ich ein kleines, verlassenes Schlafzimmer. Ich umrundete das Gebäude und spähte in alle anderen Fenster; wie ich feststellte, war die Hütte tatsächlich verlassen. Die beschädigte Eingangstür war zugenagelt, also ging ich wieder zur Rückwand und verschaffte mir auf dieselbe Weise Einlaß wie mein früherer Mentor und meisterhafter Steinnachbilder.
Ich durchquerte das Schlafzimmer und trat durch die Tür, durch die auch Paul eingetreten war. Im Wohnzimmer waren die Spuren unseres Kampfes unübersehbar. Ich fragte mich, ob das getrocknete Blut auf dem Teppich wohl mein eigenes war.
Ich sah zum Fenster hinaus. Die See war ruhiger, stiller als bei meinem letzten Besuch. Die Wogen rollten sanfter an den Sandstrand. Mich umwendend betrachtete ich die Netze und Seile, die Paul aus dem Gleichgewicht gebracht hatten, wodurch sich das Machtgleichgewicht zu unseren Ungunsten verschoben hatte und ich durchsiebt worden war.
Einige Seile sowie ein Teil des Netzes hatten sich an einem Nagel vergangen und hingen dort immer noch. Zu meiner Rechten bildeten einige an die Wand genagelte Sprossen eine behelfsmäßige Leiter.
Ich kletterte hoch, um mir die ganze Sache einmal von oben zu betrachten. Oben angekommen blieb ich stehen und zündete ein Streichholz an, um das staubige Gerumpel besser untersuchen zu können. Gegenüber der unberührten Hälfte, wo die Netze gelegen hatten, sah ich ein paar farnwedelähnliche Spuren, die unter einer Dachluke ihren Anfang hatten. Ich kletterte wieder hinab und durchsuchte auch den Rest der Hütte gründlich, fand aber nichts mehr von Interesse. Daher ging ich wieder hinaus, rauchte nachdenklich eine Zigarette und machte mich dann auf den Weg zum Auto.
Lächeln. Ginny hatte an diesem Nachmittag jede Menge Lächeln parat gehabt, und den Rest des Tages verbrachten wir damit, Situationen aus dem Weg zu gehen, bei denen es Ärger geben konnte. Sie war mehr als überrascht, als sie erfuhr, daß ich mittlerweile promoviert und einen Job angenommen hatte. Ist aber eigentlich egal. Der Tag hatte allen Erwartungen voll entsprochen, er hatte schön begonnen und blieb auch so. Wir streiften im Campus und in der Stadt umher, lachten viel und berührten uns häufig. Später besuchten wir dann ein Konzert, Kammermusik, weil uns das als das einzig richtige erschien, und der Erfolg gab uns später recht. Danach besuchten wir in der Nähe ein kleines Cafe und gingen anschließend zu mir heim, weil ich ihr beweisen wollte, daß es dort nur im üblichen Rahmen unaufgeräumt war. Und natürlich noch einige andere Dinge. Lächeln.
Der darauffolgende Tag war eine Variation desselben Themas. Auch das Wetter variierte, gegen Nachmittag regnete es ein wenig. Das war allerdings auch nicht schlecht. Man konnte gemütlich daheim bleiben und sich ein wärmendes Kaminfeuer vorstellen.
Sie hatte von meiner Inversion nichts bemerkt, und was meinen Kratzer und meine Wunde anbelangte, so tischte ich ihr eine so brillante Lüge über die Zugehörigkeit zu einer Geheimgesellschaft und einem daraus resultierenden Duell auf, daß es mir später mehr als leid tat, sie nicht aufgeschrieben zu haben. Ha! Und weiteres Lächeln.
Gegen neun Uhr abends störte das Klingen des Telefons die Idylle. Meine Vorhersehungsgabe wies mich auf daraus resultierendes Unheil hin, aber wie immer in einem solchen Fall konnte ich nichts dagegen tun. Ich stand auf und nahm den Hörerin die Hand, seufzte einmal tief und hauchte dann ein „Ja?“
„Fred?“
„Am Apparat.“
„Hier ist Ted Nadler. Wir haben ein Problem.“
„Was für eines?“
„Zeemeister und Buckler sind entkommen.“
„Von wo? Wie?“
„Sie waren noch am selben Tag in ein Gefängnishospital überführt worden. Von dort sind sie vor einigen Stunden geflohen. Keiner weiß, wie das im einzelnen vonstatten ging. Zurück blieben neun bewußtlose Angestellte – vom medizinischen wie auch vom militärischen Stab. Die Ärzte glauben an den Einsatz eines neurotropischen Gases – die Opfer sprechen alle auf Atropin an. Aber als der Direktor mich anrief, konnte noch keiner eine ausreichende Aussage machen.“
„Zu dumm. Aber ich glaubte, vor denen werden wir erst einmal eine Weile Ruhe haben.“
„Was meinen Sie damit?“
„Was habe ich gerade gesagt? Wahrscheinlich sind sie bereits unterwegs, um das Land zu verlassen. Anklage wegen Entführung, Anklage wegen Mordversuchs, eine hübsche Reihe, die sich fortsetzen ließe.“