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Überzeugt von ihren Idealen nickte sie. Wieder schüttelte ich den Kopf.

»Glaub mir, wenn du dich an jemandem abreagieren willst, dann bestimmt nicht an diesem Knaben in den goldenen Gewändern. Da gibt es andere, die sehr viel größere Macht besitzen und deine Aufmerksamkeit verdienen.«

»Ich weiß, was in diesem Land im Namen der Gerechtigkeit von mächtigen und reichen Männern verbrochen wird. Und Ihr? Ihr seid ein Medjai. Ihr seid ein Teil des Problems.«

»Vielen Dank. Warum tust du es?«

»Warum sollte ich Euch irgendetwas erzählen?«

»Weil ich, wenn du es mir nicht erzählst, nicht tun werde, was ich ansonsten zu tun beabsichtige: dich freizulassen.«

Verblüfft starrte sie mich an.

»Mein Vater …«

»Sprich weiter.«

»Mein Vater war einer der Schreiber im Dienste des früheren Königs. In Achet-Aton. Als ich noch klein war, sind wir alle in die neue Stadt gezogen. Er sagte, die neue Regierung böte ihm die Chance beruflichen Aufstiegs und finanzieller Sicherheit. Und danach sah es auch aus. Wir hatten ein gutes Leben. Wir hatten all die schönen Dinge, die er uns immer hatte geben wollen. Wir besaßen etwas Land. Aber als alles zusammenbrach, mussten wir zurück nach Theben ziehen, mit nichts. Man nahm ihm seine Arbeit, sein Land und alles, was er besaß. Er zerbrach fast daran. Und dann klopfte eines Nachts jemand an die Tür. Und als er sie öffnete, standen draußen Soldaten. Sie legten ihn in Ketten. Wir durften ihn zum Abschied nicht einmal mehr küssen. Und sie nahmen ihn mit. Wir haben ihn nie wiedergesehen.«

Eine Weile konnte sie nicht weitersprechen, nicht vor Trauer, wie ich sah, sondern vor Zorn.

»Meine Mutter legt nach wie vor jeden Abend ein Gedeck für ihn auf«, fuhr sie schließlich fort. »Sie sagt, dass sie erst an dem Tag damit aufhören wird, an dem sie sicher weiß, dass er tot ist. Die Männer dieses Königs haben uns das angetan. Und da wundert Ihr Euch, warum ich von Hass erfüllt bin?«

Ihre Geschichte war keineswegs ungewöhnlich. Viele Männer des alten Regimes hatten gelitten: Manche waren zu Zwangsarbeit verurteilt, andere enteignet worden, wieder andere waren einfach verschwunden. Ehemänner, Väter, Söhne – man hatte sie verhaftet, schweigend in Ketten abgeführt, und sie wurden nie wieder gesehen. Ich habe auch schon gehört, dass weiter im Norden an den Ufern des Großen Flusses Leichenteile angeschwemmt wurden. Augenlose, verfaulte Leiber, die sich in den Netzen der Fischer verfangen hatten und denen die Fingernägel, die Finger, die Zähne und die Zungen fehlten.

»Das tut mir leid.«

»Das braucht Euch nicht leidzutun.«

Inzwischen sah sie zumindest einigermaßen vorzeigbar aus. Ich führte sie nach draußen in den Hof. Die große Gefahr bestand darin, dass uns irgendjemand bemerkte, doch nutzten wir das allgemeine Chaos zu unseren Gunsten und schoben uns durch die Menge am Haupteingang mit der Schakal-Standarte nach draußen auf die belebte Straße.

»Ich kann nachvollziehen, was in dir vorgeht«, flüsterte ich ihr zu. »Ungerechtigkeit ist eine entsetzliche Sache. Aber denk mal nach. Dein Leben ist mehr wert als eine Geste. Das Leben ist eh schon kurz genug. Deine Mutter hat bereits genug verloren. Geh jetzt zu ihr nach Hause, und bleib da!« Ich bestand darauf, dass sie mir ihren Namen und ihre Adresse nannte für den Fall, dass ich beides in Zukunft brauchte. Und dann ließ ich sie frei – ganz so, als sei sie ein wildes Tier. Ohne sich noch einmal nach mir umzudrehen, verschwand sie im Getümmel der Stadt.

5

Zu später Stunde kam ich wieder nach Hause. Thot und ich traten durch das Tor, aber anders als sonst trabte er nicht zu seiner Schlafstatt im Hof, sondern stellte sich mit erhobenem Schwanz auf und horchte angestrengt. Im Haus war es ungewöhnlich still. Vielleicht waren Tanefert und die Kinder immer noch bei Nacht. Allerdings brannte im Wohnzimmer, in dem wir nie sitzen, die Öllampe.

Ich lief zur Küchentür, drückte sie lautlos auf und trat über die Türschwelle. Aus der Wandnische strahlte das Licht einer weiteren Lampe, aber von den Kindern fehlte jede Spur. Ich betrat das Wohnzimmer. Tanefert saß auf einem Schemel unter den Wandmalereien, die wir mangels der erforderlichen finanziellen Mittel auch nach all diesen Jahren noch nicht haben fertigstellen lassen. Sie hatte mich noch nicht gesehen. Sie wirkte angespannt. Als ich näher trat, entdeckte ich einen zweiten Schatten auf dem Fußboden. Im nächsten Moment bewegte der Schatten seinen Arm, und mit einem Satz schoss ich in den Raum und verdrehte dem Mann den Arm hinter dem Rücken. Ein Kelch fiel klirrend zu Boden. Wein ergoss sich in einer kleinen Pfütze. Ich starrte in das herablassend dreinblickende Gesicht eines Herrn mittleren Alters, der eindeutig zur Elite gehörte, teuer gekleidet war und einen zwar erstaunten, aber nach wie vor gefassten Eindruck machte. Tanefert sprang auf, als wolle sie Habachtstellung annehmen. Wie es aussah, hatte meine Nervosität mir einen Streich gespielt.

»Guten Abend«, sagte der Mann ruhig in ironischem Ton.

Ich ließ von ihm ab. Er rückte seine imposante Ehrenkette aus Gold – ein außerordentlich schönes Stück – zurecht, und dann fiel ihm auf, dass er sich Wein über sein Gewand gegossen hatte. Enttäuscht blickte er auf den roten Fleck. Das war wahrscheinlich das Schlimmste, was ihm seit Jahren passiert war.

»Dieser Herr hat auf dich gewartet, um mit dir zu reden … schon ziemlich lange.« Meine Frau sah aus, als sei sie alles andere als zufrieden mit mir. Ich konnte mir vorstellen, dass die beiden sich nicht groß miteinander unterhalten hatten. Sie ging in die Küche, um einen Lappen und Wasser zu holen, und bedachte mich im Vorübergehen mit einem tadelnden Blick.

»Ich sollte mich dafür entschuldigen, dass ich auf diese Weise hier bei Euch aufgetaucht bin«, erklärte er mit vornehm leiser Stimme. »Unangemeldet. Unerwartet …«

»Und ohne dass es dafür eine Erklärung gäbe …«, fügte ich hinzu.

Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Was er sah, beeindruckte ihn nicht. Irgendwann schaute er mich wieder an.

»Wie sollen wir diese Unterredung fortsetzen? Ich befinde mich in einer misslichen Lage. In einem Dilemma …«

»Einer Zwickmühle?«

»Wenn Ihr es so ausdrücken wollt. In einer Zwickmühle. Und die Zwickmühle besteht darin, dass ich Euch nicht sagen kann, warum ich hier bin. Ich kann Euch nur bitten, mit mir zu kommen, um jemanden zu treffen.«

»Und Ihr könnt mir nicht sagen, um welchen Jemand es sich dabei handelt.«

»Das ist die Zwickmühle.«

»Es ist ein Geheimnis.«

»Nur hört man ja, dass Ihr in puncto Geheimnisse so etwas wie ein Experte seid. Ein ›Wahrheitssucher‹. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass ich einer solchen Person je begegnen würde, und dennoch stehe ich jetzt vor einer.«

Mit vernichtendem Blick starrte er mich an.

»Ihr könntet mir zumindest Euren Namen und Euren Titel verraten«, regte ich an.

»Mein Name ist Khay. Oberster Schreiber und Vorsteher des Königlichen Haushalts. Das ist alles, was ich Euch im Moment sagen darf.«

Was trieb ein so hoher Beamter, der ganz oben in der Palasthierarchie tätig war, an diesem sonderbaren Tag der Omen und des Blutes in meinem Wohnzimmer? Ich fand das dermaßen faszinierend, dass ich mich über mich selbst ärgerte. Ich schenkte jedem von uns einen neuen Kelch Wein ein. Er schaute auf seinen, war eindeutig nicht beeindruckt von dessen Qualität, trank ihn aber trotzdem, als handle es sich um Wasser.

»Bittet Ihr mich, jetzt mit Euch zu kommen?«

Er nickte zwar beinahe beiläufig, doch sah ich, dass er mich dringend brauchte.

»Es ist spät. Warum sollte ich meine Familie allein hier zurücklassen, ohne zu wissen, wohin ich gehe oder wann ich wiederkomme?«

»Eure Sicherheit kann ich selbstverständlich garantieren. Nun ja, garantieren kann ich, dass ich mich für Eure Sicherheit einsetzen werde, was, wie ich schätze, nicht so ganz dasselbe ist. Hundertprozentig garantieren kann ich, dass Ihr vor Morgengrauen wieder zu Hause sein werdet, wenn Ihr das wünscht.«