Ich erklärte Kheti, was mir da gerade durch den Kopf gegangen war.
»Aber warum tötet der Mörder das Opfer nicht einfach mit der Droge und stellt danach die Möbel um?«, meinte er.
Das war eine gute Frage.
»Es scheint dem Mörder wichtig zu sein, dass die ›Arbeiten‹ an einem noch lebenden Körper vorgenommen werden«, erwiderte ich. »Darum geht es bei seiner Besessenheit. Das ist sein Fetisch …«
»Ich hasse dieses Wort«, warf Kheti unnötigerweise ein. »Davon sträuben sich mir am ganzen Körper die Haare …«
»Wir müssen in Erfahrung bringen, wo dieses Mädchen gearbeitet hat«, sagte ich.
»Die jungen Dinger, die in der Stadt enden und das tun, was sie getan hat, kommen von überall und nirgendwo. Sie ändern ihre Namen. Sie haben keine Familien. Und sie kommen niemals wieder hier weg.«
»Geh in die Etablissements und in die Bordelle. Stell fest, ob irgendjemand sie dort kennt. Vielleicht wird sie ja vermisst.«
Ich reichte ihm das goldene Gesicht.
Er nickte. »Und was machst du?«
»Du musst das da tun, während ich einer anderen Sache nachgehe.«
Mit einem Anflug von Erheiterung sah er mich an.
»Jetzt würde jeder denken, dass du mich nicht mehr leiden kannst.«
»Ich konnte dich noch nie leiden.«
Er grinste.
»Du verschweigst mir irgendwas …«
»Das ist eine akkurate Schlussfolgerung. Die vielen Jahre, die wir zwei schon zusammen sind, waren also keine Zeitverschwendung.«
»Und warum traust du mir nicht?«
Ich griff mir ans Ohr, um klarzustellen, dass ich auch dazu nichts sagen würde, und deutete mit der anderen Hand auf Thot.
»Frag ihn. Er weiß alles.«
Mit regloser Miene sah der Pavian uns beide an.
Wir gingen in ein ruhiges Gasthaus, abseits des geschäftigen Teils der Stadt. Es war mitten am Morgen, und alle waren bei der Arbeit, also war außer uns niemand dort. Wir setzten uns auf die Bank, die ganz hinten stand, um Bier zu trinken und Mandeln zu essen. Bestellt hatte ich beides bei dem schweigsamen, aber wachsamen Besitzer, und wir saßen dicht nebeneinander, damit uns niemand belauschen konnte. Ich erzählte ihm alles, was sich am Vortag und in der Nacht zugetragen hatte. Über den mysteriösen Khay und Anchesenamun und das Relief.
Er hörte aufmerksam zu, sagte aber nichts, wenn man davon absah, dass er weitere Informationen darüber erbat, wie es im Palast aussah. Das war ungewöhnlich. Normalerweise geht Kheti alles rational an. Wir kennen uns seit vielen Jahren. Ich habe dafür gesorgt, dass man ihn als Medjai in Theben einstellte, damit er und seine Ehefrau aus Achet-Aton herauskamen. Seither war er mein Gehilfe.
»Warum sagst du nichts?«
»Ich denke nach.«
Er trank große Schlucke von seinem Bier, als mache das Nachdenken durstig.
»Diese Familie macht nichts als Probleme«, meinte er irgendwann.
»Welche Weisheit, ein wahres Juwel. Soll ich dir dafür jetzt etwa dankbar sein?«
Er grinste.
»Was ich meine, ist: Du solltest dich da raushalten. Das bringt nichts Gutes.«
»Genau das Gleiche hat meine Frau gesagt. Aber was soll ich deines Erachtens tun? Das Mädchen seinem Schicksal überlassen?«
»Du weißt nicht, was ihr Schicksal ist. Und sie ist kein Mädchen, sie ist die Königin. Du kannst nicht für jeden die Verantwortung übernehmen. Du musst an deine eigene Familie denken.«
Das ärgerte mich maßlos.
Er beobachtete mich.
»Du fühlst dich aber verantwortlich für sie, nicht wahr?«
Ich zuckte mit den Achseln, leerte meinen Becher in einem Zug und erhob mich, um zu gehen. Thot zerrte bereits an seiner Leine.
Wir liefen nach draußen, hinein in die Hitze und das Licht, und Kheti hatte Mühe, Schritt mit mir zu halten.
»Wohin gehst du jetzt?«, fragte er, während wir uns unseren Weg durch die Menschenmenge bahnten.
»Ich besuche meinen Freund Nacht. Und du wirst losgehen und alles über das Verschwinden dieses Mädchens in Erfahrung bringen. Du weißt, wo du damit anfangen musst. Sieh zu, dass du mir später Bescheid gibst.«
11
Ein Besuch bei meinem alten Freund Nacht in seinem Landhaus ist wie ein Spaziergang aus dem heißen, staubigen Chaos der Stadt in eine andere, ruhigere und vernünftigere Welt. Er hat seinen enormen Reichtum dazu genutzt, sich sein Leben so luxuriös und angenehm wie möglich zu gestalten und sich auf seinem hinter Mauern liegenden Anwesen vor der Stadt ein eigenes kleines Königreich aus Kunst und Wissen zu erbauen. Er war berühmt für die Blumen und Bienen, die er dort züchtete, was ihm einen ungewöhnlichen neuen Titel eingebracht hatte: ›Aufseher über die Gärtner des Amun‹. All die Tausende Bouquets, die bei den Festen die Tempel schmücken und den Göttern als persönliche Opfer dargebracht werden – um sie an das Leben nach dem Tod zu erinnern –, werden unter Nachts Aufsicht gezüchtet.
Ich ging durch das Südtor aus der Vorstadt hinaus und auf dem Pfad weiter, der zu seinem Haus führte. Die Sonne stand hoch am Himmel, und das Land flirrte in der Hitze des Mittags. Ich hatte keinen Sonnenschirm mitgenommen, aber die Palmen, die den Weg säumten, boten ausreichend Schutz. Während ich meines Weges ging, betrachtete ich die Fülle von Nutzpflanzen auf den sorgsam bestellten Ackerreihen, die sich in alle Himmelsrichtungen erstreckten. Hie und da schimmerten die Kanäle, die aufgrund der Nilschwemme übergelaufen waren, und in den geraden Wasserläufen spiegelte sich das klare Blauweiß des Himmels. Es begegneten mir nur wenige Menschen, denn die Arbeiter machten momentan alle Mittagspause, aßen und tranken ihr Bier oder schliefen nebeneinander aufgereiht und mit Kopftüchern über den Gesichtern in jedem Stückchen Schatten, das sie finden konnten: unter Karren, Palmen oder an den Seiten von Häusern und Getreidescheunen. Hoch über uns allen breiteten Falken ihre dunklen bronzefarbenen Schwingen aus, schwebten und kreisten und schauten dabei nieder auf die Welt. Ich habe mich schon häufig gefragt, wie die Welt wohl aus ihrer Perspektive aussieht, die kein Mensch, der dazu verdammt ist, auf seinen zwei Beinen auf der Erde zu bleiben, je sehen wird. Ich denke mir, dass man von dort oben die glitzernde Schlange des Großen Flusses sieht, die vom einen Ende der Welt bis zum anderen reicht; und an ihren Ufern erstrecken sich zu beiden Seiten die grünen und gelben Flecken der bebauten Flächen. Dahinter die endlose Weite des Roten Landes, in dem die königlichen Familien ihre Grabstätten aus ewigem Stein erbauen und ihre dazugehörigen Tempel, gleich an der Grenze zur Wildnis, der Wüste, dem Ort großer Einsamkeit. Vielleicht sahen die Falken, was wir nicht sehen konnten: was mit der Sonne passierte, wenn sie hinter dem unerreichbaren Horizont der sichtbaren Welt versank. Gibt es in der unendlichen Weite dahinter tatsächlich einen riesigen und bedrohlichen finsteren Ozean, in dem Götter und Ungeheuer leben und über den die Sonne auf ihrer Barke durch die Gefahren der Nacht reist? Ist es das, was uns diese Raubvögel mit ihrem schrillen, hohen Kreischen, das sich anhört wie ein Warnruf, immer und immer wieder sagen wollen?
Ich betrat den ersten Innenhof von Nachts weitläufigem, eingeschossigem Anwesen. Sein Diener Minmose kam nach draußen gerannt, um mich zu begrüßen und hastig ins Haus zu führen, wobei er mir beflissen einen Sonnenschirm über den Kopf hielt.
»Herr, die Hitze, die um diese Tageszeit herrscht, backt Euch das Hirn im Schädel wie ein Entenei. Wenn ich gewusst hätte, dass Ihr uns mit Eurem Besuch beehrt, hätte ich Euch einen Diener mit einem Sonnenschirm schicken können, der Euch begleitet hätte.«