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»Wie grauenvoll! Was für eine Barbarei. Es wird immer schlimmer da draußen, keine Frage.«

Ich nickte.

»All diese Dinge wurden mit einer Perfektion und derart konsequent ausgeführt, dass ich den Verdacht hege, das Relief, das man im Palast gefunden hat, könne damit in Verbindung stehen. Ich frage mich, ob die Zerstörung der Sonnenscheibe ebenfalls eine spezifische Bedeutung haben könnte …«

»Welche Art von Bedeutung?«, fragte er skeptisch.

»Eine Sonnenfinsternis«, wagte ich, es auszusprechen.

»Na, das nenne ich eine sehr interessante Idee«, erwiderte er und verfolgte sie sogleich weiter. »Die Sonne im Kampf von den Mächten der Finsternis vernichtet und dann wiederhergestellt und neu geboren … das hat gewaltige Aussagekraft. Und trifft im Moment haargenau den Punkt …«

»Irgend so was«, antwortete ich. »Also dachte ich mir, ich konsultiere den Mann, der mehr über Sterne weiß als jeder andere, den ich kenne.«

»Nun ja, es ist nur ein Gleichnis«, erwiderte er lächelnd.

Ich hatte keine Ahnung, was er damit meinte.

»Erzähl mir mehr.«

»Lass uns einen Spaziergang machen«, schlug er vor.

Also liefen wir über einen der Wege durch seine Blumenbeete, und er begann zu erklären. Wie immer in solchen Fällen lauschte ich Nachts Worten, ohne sie ganz zu verstehen, denn ich wusste, wenn ich ihn unterbrach und Fragen stellte, führte das nur zu weiteren, gleichermaßen herrlichen, aber unendlich verwirrenden Abschweifungen.

»Überleg mal, wie wir die Mysterien der Welt um uns her verstehen. Re, der Sonnengott, segelt im Goldenen Schiff des Tages über den Blauen Ozean des Tages. Aber bei Sonnenuntergang nimmt der Gott ein anderes Schiff, das Schiff der Nacht, und entschwindet darauf in das Reich der Unterwelt. Der Schwarze Ozean der Nacht offenbart sich uns mit seinen funkelnden Sternen, – dem Hellen, dem strahlendsten von allen, und den fünf Sternen des Horus sowie den Sternen des Osiris, der Straße der Weiteren Gestirne am Firmament und dem wandernden Morgenstern –, und alle segeln sie über die dunklen Wasser und folgen der Sonne. Deren Reise mit all ihren Gefahren und Prüfungen wir niemals sehen, wir können sie uns immer nur vorstellen. Im Totenbuch vergleichen wir das mit der Reise der Seele nach dem Tod. Kannst du mir bis hierher folgen?«

Ich nickte.

»So einigermaßen …«

»Jetzt wird es diffiziler. Hör gut zu und konzentrier dich. Die größte dieser Gefahren, die bedeutsamste und zugleich geheimnisvollste, besteht in der dunkelsten Stunde der Nacht in der Vereinigung der Sonne mit dem Leib des Osiris. ›Die Sonne ruht in Osiris, Osiris ruht in der Sonne‹, wie der Spruch besagt. Das ist der geheimste Moment, in dem die Sonne wieder niedersteigt in die Urgewässer und deren chaotische Macht. Aber genau in diesem finsteren Moment bekommt Osiris neue Lebenskraft und wird wiedergeboren. Ich sage es noch einmaclass="underline" Wir Lebenden können ein derartiges Ereignis nie mitansehen, denn es findet im entlegensten Winkel des Unbekannten statt, verborgen vor den Augen der Menschen. Aber auch hier gilt: Wir können es uns vorstellen, wenn auch nur mit großer Mühe. Dann, im Morgengrauen, kehrt die Sonne zurück, deutlich sichtbar und wiedergeboren, denn Re ist der Selbsterschaffer und der Schöpfer aller Dinge, die existieren. Und diese wiederkehrende Gestalt des Gottes nennen wir den Skarabäus, Cheper, der von selbst entstand, der sich aus dem Nicht-Sein ins Sein schiebt. Und so beginnt der neue Tag! So geht es immer weiter, Tag für Tag, Jahr für Jahr, Leben für Leben, Tod für Tod, Wiedergeburt für Wiedergeburt, unaufhörlich und auf ewig.«

Ich wusste, dass er es liebte, solche Reden zu schwingen. Mein Problem war, dass das Ganze zu sehr wie eine gute Geschichte klang. Und wie all die Geschichten, die wir uns selbst und unseren Kindern darüber erzählen, wie Dinge passieren und warum Dinge sind, wie sie sind, war sie nicht zu beweisen.

»Nur was hat das alles mit meiner Frage zu tun?«, hakte ich nach.

»Es gibt einen Moment, in dem wir, die Lebenden, diese göttliche Vereinigung miterleben können.«

»Während einer Sonnenfinsternis?«

»Genau. Es gibt natürlich unterschiedliche Erklärungen für ein solches Ereignis, je nachdem, welche Lehre man befragt oder welcher man anhängt. Eine ist die, dass die Göttin Hathor des Westens den Gott mit ihrem Leib bedeckt. Gewissermaßen eine göttliche Vereinigung von Licht und Dunkelheit. Eine andere Erklärung, die dem widerspricht, lautet, dass irgendeine finstere Macht, deren Namen wir nicht kennen und deshalb auch nicht nennen können, das Licht erobert – aber das Licht schöpft neue Kraft und triumphiert in der göttlichen Himmelsschlacht.«

»Zu unserem Glück.«

»In der Tat. Denn ohne Licht gibt es kein Leben. Das Königreich der Finsternis ist das Land der Schatten und des Todes. Es gibt aber Dinge, die wir selbst heute noch nicht verstehen. Ich bin allerdings überzeugt, dass unser Wissen dereinst einen Stand erreichen wird, der es uns ermöglicht, alle Dinge zu erklären, die existieren.«

Er blieb vor einem Granatapfelbusch stehen, fuhr mit der Hand durch die rosafarbenen Blüten – gerade groß in Mode – und zupfte schließlich ein paar halbverblühte heraus, als wolle er seine gottgleiche Macht über seine Schöpfung demonstrieren.

»Wie ein ›Buch über Alles‹ …«, schlug ich vor.

»Genau. Aber Worte sind nicht vollkommen, und die Fähigkeit unseres Schriftsystems, so schön es auch ist, hat im Hinblick darauf, die Schöpfung in all ihrer sinnfälligen und verborgenen Pracht zu beschreiben, seine Grenzen … Wir müssten also einen anderen Weg finden, Dinge zu beschreiben.«

»Und wie sollte der aussehen?«

»Na ja, das ist die Frage. Aber vielleicht liegt die Antwort nicht in Worten, sondern in Zeichen; eigentlich, in Zahlen …«

An diesem Punkt konnte ich einfach nicht mehr folgen, was mir häufig passiert, wenn ich mich mit Nacht unterhalte. Er ergeht sich mit solcher Leidenschaft in Spekulationen, dass das in mir zuweilen das Bedürfnis weckt, etwas völlig Praktisches und Unbedeutendes zu tun, wie beispielsweise den Hof zu fegen.

Er lächelte, als er den verwirrten Ausdruck auf meinem Gesicht sah.

Ich brachte unsere Unterhaltung zum Ausgangspunkt zurück.

»Wo wir gerade bei dem Thema sind: Da du Sternkalender benutzt, weiß ich, dass du den Beginn der Nilschwemme voraussagen kannst und den Anfang des Festes. Sind aus den Tabellen auch Sonnenfinsternisse abzulesen?«

Er dachte geraume Zeit nach, bevor er mir darauf antwortete.

»Ich glaube nicht. Ich habe mir auf der Grundlage meiner Beobachtungen meine eigenen Kalender erstellt, aber ich hatte bisher noch nie das Glück, einer Sonnenfinsternis beizuwohnen, denn das sind in der Tat seltene Ereignisse. Ich habe auf meiner Dachterrasse aber mal eine Mondfinsternis beobachtet. Mich fasziniert und verwirrt der konsequent kreisförmige Verlauf, der sowohl bei der Wiederholung kosmischer Ereignisse zu beobachten ist, als auch in der Form der Schatten, die sich über die Mondscheibe legen, denn sie bilden einen geschlossenen Kreis, wie wir ihn beim Vollmond und bei der Sonne sehen und ihn vielleicht auch bei einer totalen Sonnenfinsternis sehen würden. Das lässt die Vermutung zu, dass der Kreis die perfekte Himmelsform ist, sowohl als Idee – denn ein Kreis impliziert unendliche Wiederkehr – wie auch als reale Tatsache.«

Dankbar für eine Pause in diesem Schwall aus rasend schnellen Spekulationen fragte ich rasch:

»Aber wie könnten wir mehr darüber in Erfahrung bringen? Könntest du mich in die Astronomischen Archive bringen?«

»In den Bezirk des Tempels von Karnak? Zu dem ich Zutritt habe?«, fragte er lächelnd.

»Wie glücklich ich doch dran bin, einen Mann von derart hohem Rang zu meinen engen Freunden zählen zu können.«

»Dein Sarkasmus ist so was von … bourgeois«, erwiderte er in heiterem Ton.