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Mit gebieterischer Körperhaltung und elegant schnellen Schrittes passierte Nacht die Sicherheitssperren vor dem Haupt-Pylon des Tempels von Karnak. Thot und ich folgten ihm, und ich blickte empor zu den großartigen Lehmziegelmauern, die sich hoch über uns erhoben. Und dann befanden wir uns plötzlich in den Schatten des »vollkommensten aller Orte«, einer verbotenen, geheimen Welt inmitten der Welt; denn niemand, der nicht der elitären Priesterkaste angehört, darf dieses gewaltige, uralte, aus Säulenhallen und düsteren Tempeln bestehende Steinlabyrinth betreten, dessen Wände mit zahllosen mysteriösen Reliefs verziert und von einem Irrgarten aus heiligen Schreinen umgeben sind, in den niemals die Sonne dringt und in dessen dunklem Schweigen die Götter umsorgt werden, indem man sie weckt, verehrt, ankleidet, nährt, wieder schlafen legt und in der Nacht bewacht.
Wir traten nach draußen auf einen offenen Platz. Wohin ich auch blickte, sah ich Männer, die zur Aristokratie gehörten, in strahlend weißes Leinen gehüllt waren und gemütlich ihren geheimnisvollen Tätigkeiten nachgingen. Übermäßig beschwerlich schien das Leben als Priester nicht zu sein. Zu festgesetzten Zeiten des Jahres finden sie sich für ihren Anteil an den gewaltigen Tempeleinkünften in den heiligen Bezirken ein, um eine Weile Dienst zu tun, was bedeutet, dass sie die alten Vorschriften der rituellen Reinheit befolgen – bei Sonnenaufgang im Heiligen See baden, sich ihre Leiber rasieren, weiße Leinengewänder tragen – und ganz genau, ohne jegliche Abweichung, gemäß den Anweisungen die einzelnen Aufgaben und Rituale der Verehrung erfüllen und vollziehen.
Allerdings sind alle Tempel, ob es sich um einen winzigen Schrein in einer staubigen Handelsstation an der südlichen Grenze handelt oder um die ältesten göttlichen Stätten der Beiden Länder, anfällig für die gesamte Bandbreite typisch menschlichen Verhaltens: Korruption, Bestechung, Diebstahl, Unterschlagung und alles, was es da sonst noch gibt, von Skandalen wegen verkürzter Gottesdienste sowie der Entwendung von Reliquien und geweihten Lebensmitteln bis hin zu nackter Gewalt und Mord. Je größer der Tempel, desto größer der Reichtum. Reichtum ist Macht. Und Karnak ist der größte aller Tempel. Sein Reichtum und seine Macht haben einen langen Kampf gegen den Reichtum und die Macht der königlichen Familie geführt – und ihn inzwischen gewonnen.
Das weite Gelände innerhalb der Umfassungsmauern beherbergte etwas, was für meine Augen aussah wie ein Mischmasch aus alter Zeit und Moderne: Pylone, Obelisken, Prachtstraßen, Statuen, Kapellen und nicht zugängliche Tempelanlagen mit gewaltigen Papyrussäulen und schattigen Hallen. Manche dieser Bauten waren gerade neu errichtet worden, andere befanden sich noch im Bau, einige hatte man abgerissen, wieder andere waren nur noch Ruinen. Es gab auch Magazine, Amtsstuben und Wohnhäuser für die Beamten und die Priester. Eigentlich war das Ganze eine kleine Stadt, die zwar herrschaftlich, aber dennoch chaotisch war. Es wimmelte nur so von Priestern, die durch die Portale und Pylone liefen und dabei von einer noch erheblich größeren Anzahl an Dienern und Gehilfen begleitet wurden. Vor uns erhob sich ein weiterer Pylon, der zu noch mehr Pylonen führte, durch die man schließlich zu den uralten Heiligtümern im Innersten des Tempels gelangte.
»Hinter diesen Höfen befindet sich der Heilige See«, sagte Nacht und zeigte dabei nach rechts. »Die Priester müssen sich zweimal am Tag und zweimal in der Nacht mit seinem Wasser besprengen und sich den Mund mit ein wenig Natron ausspülen.«
»Das ist ein schweres Leben«, sagte ich.
»Sei ruhig sarkastisch, aber in der Zeit, da die Priester in der Tempelanlage ihre Amtspflichten erfüllen müssen, ist ihnen der Geschlechtsverkehr absolut untersagt, und ich bin mir ziemlich sicher, dass du das für eine unzumutbare Auflage halten würdest«, erwiderte er mit der typischen Offenheit, die er im Hinblick auf solche Dinge an den Tag legte. »Aber die Priester leben natürlich immer nur vorübergehend hier. Anders als die Sänger, die Zeremonienmeister des Schreins, die Vorlesepriester, die Schreiber, die Stundenpriester, die dafür verantwortlich sind, dass die Rituale zum richtigen Zeitpunkt abgehalten werden … dabei sind es in Wahrheit die Verwaltungsangestellten, die Diener und die Leinweber, die Köche und Reinigungskräfte, die alles Erforderliche leisten, damit die Rituale perfekt vollzogen werden können. Man könnte sagen, dass der Gott Amun mehr Leute beschäftigt als der König.«
»Im Grunde ist das Ganze also eine riesengroße Regierungsabteilung …«, sagte ich.
»Genau. Aufseher überwachen jeden einzelnen Aspekt: wie der Landbesitz geführt wird, die Konten, das Militär, das Personal, die Felder, die Priester, die Kornkammern und das Schatzamt …«
Vor dem Eingang zu einer Reihe beeindruckender Gebäude blieb er stehen.
»Und das ist das Haus des Lebens, in dem sich das Skriptorium und die Bibliotheken befinden, die Archive und die Amtsstuben der Vorlesepriester.«
Wir traten ein. Direkt vor uns tat sich hinter Flügeltüren ein großer, stiller Raum auf.
»Das ist das Skriptorium«, flüsterte Nacht, als spräche er zu einem Kind, denn ich konnte mit eigenen Augen sehen, dass hier Männer verschiedenen Alters mit akribischer Genauigkeit Texte von alten Schriftrollen auf neue übertrugen oder miteinander verglichen. Die Atmosphäre in der Bibliothek war träge, denn es war mitten am Nachmittag, und manche der älteren Besucher der Archive arbeiteten nicht intensiv, sondern dösten über den Schriftrollen, die vor ihnen ausgebreitet lagen. An den Wänden befanden sich Holzregale, auf denen sich unendlich viele Schriftrollen stapelten, Papyrus über Papyrus, ganz so, als läge hier sämtliches Wissen, schriftlich abgefasst. Durch Obergadenfenster fiel das Licht der Sonne in den Raum und illuminierte die zahllosen Staubpartikel, die glitzernd niederschwebten wie winzige Fragmente von Ideen oder Hieroglyphen, die aus den Schriftrollen herausgebröselt und damit aus ihrem Zusammenhang gerissen und bedeutungslos geworden waren.
»Das hier sind die ältesten Archive der Welt«, fuhr Nacht im Flüsterton fort. »Viele der Texte, die hier aufbewahrt werden, stammen aus der Zeit des Anfangs unserer Welt. Papyrus ist bemerkenswert robust, aber manche Rollen sind so alt, dass sie in Ledermappen gelagert werden müssen und man sie nicht lesen kann. Andere können zwar auseinandergerollt werden, doch wird befürchtet, dass selbst der schwächste Sonnenstrahl die letzte Tinte ausbleichen könnte, sodass man sie nur bei Kerzenlicht lesen darf. Tatsache ist, dass manche sich bei Mondlicht mit ihnen befassen, aber ich schätze, dass dahinter auch viel Aberglaube steckt. Viele wurden in Zeichen abgefasst, die heutzutage unverständlich sind, und deshalb bestehen sie nur aus einem bedeutungslosen Gewirr von kindischen Zeichnungen. Das ist eine entsetzliche Vorstellung: ganze Welten, die für uns nur noch Blödsinn sind. Es ist ein Palast, in dem enormes Wissen zusammengetragen wurde, nur ist leider vieles davon unverständlich. Verlorenes Wissen … Verlorene Bücher …«
Er seufzte. Wir liefen hinaus und durch einen Korridor, von dem eine Tür nach der anderen abging.
»Hier werden die mythologischen und theologischen Traktate aufbewahrt sowie die Gedichte und die Originalvorlagen der Inschriften, die an den Tempelwänden und Obelisken zu sehen sind. Hier gibt es auch Künstlerateliers, in denen Kopien des Totenbuches angefertigt werden. Und dann befinden sich hier Räume, in denen Schulungen stattfinden und gelernt wird. Sowie verschiedene Lagerräume für Texte über Themen wie das Schreiben, das Ingenieurwesen, Poesie, Jura, Theologie, Magie, Medizin …«
»Und Astronomie«, fügte ich hinzu.
»Richtig. Da sind wir auch schon.«
Wir standen vor einem alten Mann, der das weiße Leinengewand und die Schärpe eines Vorlesepriesters trug und vor Doppeltüren stand, die mit einem Strick verschlossen und versiegelt waren. Er hatte prächtig weiße Augenbrauen und blickte uns mit unheilvoller Miene an.