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»Ich bin Nacht«, stellte Nacht sich ihm vor.

»Willkommen«, erwiderte der Priester in einem Ton, der genau das Gegenteil vermittelte.

»Ich würde gern einige Schriftrollen aus dem Bereich Astronomie einsehen«, sagte Nacht.

Mit zusammengekniffenen Augen starrte der Priester ihn an und ließ sich die Bitte durch den Kopf gehen.

»Und wer ist Euer Begleiter?«, fragte er misstrauisch.

»Das ist Rahotep. Er ist der Leiter der Kriminalabteilung der thebanischen Medjai.«

»Warum muss ein Polizist Einsicht nehmen in astronomische Tabellen?«

»Sein Verstand dürstet nach Wissen, und ich bemühe mich, diesen Durst zu stillen«, entgegnete Nacht. Der Priester schien keinen anderen Grund finden zu können, uns den Eintritt zu verwehren, und so trat er mit einem tiefen Seufzer zur Seite; er bewegte sich dabei wie ein Nilpferd im Schlamm, brach murrend das Siegel und knotete die Stricke auf. Dann öffnete er die Türen und bedeutete uns mit einer kurzen Handbewegung, einzutreten.

Der Raum war sehr viel größer und höher, als ich erwartet hatte. An jeder Wand erhoben sich bis zur Decke Regale, und in der Mitte standen, aufgereiht wie Fischgräten, hohe Aufbewahrungskästen. In jedem der Regale lagerten unzählige Schriftrollen. Ich hätte nicht gewusst, wo ich hätte anfangen sollen, aber Nacht überflog die Schildchen, als suche er nach etwas Bestimmtem.

»Aus weltlicher Sicht ist Astronomie lediglich ein Teilbereich der Religion. Solange wir wissen, wo die wichtigen Gestirne auftauchen, damit die Tage und Feste und Feiern mit den Mondtabellen zusammenfallen, sind alle glücklich. Indes scheint noch niemandem aufgefallen zu sein, dass die Regelmäßigkeit, das Wiederholungsmuster, dem die unvergänglichen Sterne folgen, auf ein immens geordnetes Universum jenseits unserer Vorstellungskraft hindeutet.«

»Statt der alten Geschichten, die man uns seit Anbeginn der Zeit über Götter und Göttinnen erzählt und darüber, dass alles aus dem Papyrussumpf der Schöpfung entstanden und die Nachtwelt der Ort des ewigen Lebens ist …«

»In der Tat«, wisperte Nacht. »Die Sterne sind das ewige Leben, nur vielleicht nicht so, wie wir immer dachten. Ketzerei, natürlich«, sagte er mit einem seligen Grinsen.

Er breitete mehrere Schriftrollen auf den niedrigen Tischen aus, die zwischen den Aufbewahrungskästen standen, und dann zeigte er mir die Sterntabellen mit all den Zeichen und Zahlen, die in roter und schwarzer Tinte darin eingetragen waren.

»Pass auf: In dieser Spalte hier sind sechsunddreißig Gruppen von Sternen aufgeführt, aus denen sich die nächtliche Welt zusammensetzt. Die nennen wir die Dekane

Ich ließ meinen Blick über die Symbole in den einzelnen Spalten gleiten und rollte den alten Papyrus dabei immer weiter auf. Die Zeichen schienen endlos weiterzugehen. Nacht mokierte sich.

»Sei vorsichtig. Das muss man behutsam anfassen. Mit Respekt.«

»Und warum werden die Informationen auf diese Art festgehalten?«

»Jede Spalte weist die Sterne aus, die über einen Zeitraum von jeweils zehn Tagen vor Morgengrauen über dem Horizont aufgehen. Siehst du, hier ist der Hundsstern, der genau zum Zeitpunkt der Großen Flut aufgeht, am Beginn des Sonnenjahres. Und hier ist das Sternbild Sah, die Glorreiche Seele des Osiris, der helle Stern, der zu Anfang von peret aufgeht, der Zeit der Aussaat … du kennst doch bestimmt das Sprichwort, oder nicht? ›Ich bin der Stern, der die Beiden Länder erhellt, der sich vor die Sterne des Himmels stellt, auf den Leib meiner Mutter Nut.‹«

Ich schüttelte den Kopf.

»Manchmal habe ich das Gefühl, dass du absolut gar nichts weißt«, meinte er.

»Das hier ist nicht so ganz mein Fachgebiet. Aber was ist mit der Sonnenfinsternis?«, erinnerte ich ihn.

Die nächsten paar Minuten verbrachte er damit, viele weitere Tabellen einzusehen, rollte eine nach der anderen auf und wieder zusammen, und jede Schriftrolle wirkte älter und brüchiger als die davor.

Schließlich schüttelte er resigniert den Kopf.

»Es ist nichts darüber vermerkt. Das hätte ich nicht gedacht.«

»Eine Sackgasse.«

»Es war ein interessanter Gedankengang«, sagte er und fügte im Ton eines Schulmeisters hinzu: »Und zumindest weißt du jetzt ein bisschen was über das Thema.«

Wir verließen das Archiv, und der Priester beugte sich ungelenk nach vorn, um die Seile wieder zu verknoten und neu zu versiegeln. Nachdem wir uns ein paar Schritte entfernt hatten, sprach ich laut aus, was mir gerade durch den Kopf ging: »Wo werden denn die geheimen Bücher aufbewahrt?«

Nacht versuchte zu verbergen, wie sehr meine Frage ihn beunruhigte, aber das misslang.

»Wovon redest du? Was für geheime Bücher?«

»Die Bücher des Thot zum Beispiel.«

»Nun komm aber, die sind mehr Legende als Realität. Wie so viele angeblich geheime Bücher.«

»Es ist aber doch wahr, dass es eine Reihe von heiligen Schriften gibt, die nur Eingeweihte lesen dürfen, oder etwa nicht?«, fragte ich.

»›Eingeweihte‹? Worin sollten die eingeweiht sein? Und welche Themen sollten diese Schriften behandeln?«

»Oh, Themen wie die göttliche Geometrie«, gab ich locker zur Antwort.

»Von so etwas habe ich noch nie gehört«, erwiderte er steif und sah dabei über die Schulter, um sicherzustellen, dass niemand uns hören konnte.

»Natürlich hast du das, mein Freund«, sagte ich leise.

Wütend starrte er mich an.

»Was meinst du damit?«

»Du wusstest, dass diese Schriftrollen nichts beinhalten, was mich interessiert. Und ich bin dir dankbar dafür, dass du dir die Zeit genommen hast, mir zu zeigen, dass da nichts ist. Nur kenne ich dich sehr gut, und es gibt da eindeutig etwas, was du mir nicht sagst.«

Er besaß den Anstand zu erröten.

»Manchmal lassen sich wichtige Dinge nicht einfach so erörtern.«

»Was für Dinge?«

»Ich hasse dich regelrecht, wenn du deine Verhörtaktiken bei mir anwendest. Ich versuche nur zu helfen«, schimpfte er und meinte das nicht einmal ansatzweise als Witz.

»Dann werde ich dir sagen, was ich denke. Ich denke, dass es geheime Bücher gibt, unter anderem über Astronomie, und ich denke, dass du zu den Eingeweihten gehörst und einige von ihnen gelesen hast und weißt, wo sie aufbewahrt werden.«

Er starrte mir geradewegs ins Gesicht, mit einem Blick, der so eisig war, wie ich es noch nie bei ihm erlebt hatte.

»Was für eine lebhafte Fantasie du doch hast …« Und dann lief er von dannen.

Ich folgte ihm zurück nach draußen in die Helligkeit und Hitze des Spätnachmittags, und schweigend gingen wir unseres Weges. Dann blieb er plötzlich stehen und zog mich neben einem alten Tempel in eine schattige Ecke.

»Ich kann dich nicht belügen, mein Freund. Ich kann dir den Inhalt der Bücher aber auch nicht verraten. Ich habe einen heiligen Schwur geleistet.«

»Ich wollte aber doch auch nur wissen, ob sie existieren oder nicht.«

»Das ist aber bereits zu viel Wissen. Es muss geheim gehalten werden, ob es sie gibt oder nicht. Die geheimen Bücher sind in diesen düsteren Zeiten verboten. Geheimes Wissen ist wieder gefährlich geworden. Wie du sehr wohl weißt, könnte jeder, bei dem man solche Bücher findet oder auch nur Abschriften von Teilen dieser Bücher, mit dem Tode bestraft werden.«

»Sie existieren aber, sie werden von einem kleinen Kreis gelesen, und deshalb müssen sie irgendwo versteckt liegen. Wo sind sie also?«, fragte ich ihn geradeheraus.

»Das kann ich dir nicht sagen.«

Ich sah mich um und schaute auf die vielen Bauten auf dem Tempelgelände. Plötzlich wurde mir klar, dass es vielleicht auch in dieser geheimen Stadt noch eine weitere Stadt gab. Denn jedes Geheimnis birgt in seinem Innersten ein weiteres Geheimnis.