Ich zögerte. Eigentlich musste ich jetzt los, um zusammen mit Simut die Befragungen all derer vorzunehmen, die Zutritt zu den königlichen Gemächern hatten. Ich wusste aber, dass mir hier keine Wahl blieb.
Wir rannten durch die Menschentrauben, um zu dem Haus zu gelangen, das sich in einem entlegenen Viertel der Stadt befand. Alles und jeder bewegte sich zu langsam; Leute liefen kreuz und quer oder blieben mitten auf dem Weg stehen; mit Lehmziegeln, Abfall oder Gemüse beladene Esel blockierten die engen Gassen; all die alten Leute der Stadt schienen ewig zu brauchen, um die Straßen zu überqueren. Also sprangen wir von einer Seite zur anderen und um die diversen Hindernisse herum, brüllten dabei, man solle uns den Vortritt lassen, drückten und schoben Dummköpfe, Arbeiter, Beamte und Kinder zur Seite und ließen hinter uns eine Schneise tumultartiger Verärgerung zurück.
Der junge Mann lag auf seinem Bett. Er war etwa im gleichen Alter wie der erste Junge und litt ebenfalls an einem ähnlichen Gebrechen. Auch ihm hatte man die Knochen zertrümmert. Dadurch war seine Haut von entsetzlichen Blutergüssen übersät. Und dann hatte der Mörder den Skalp, der dem jungen Mädchen gehört haben musste, ihr nunmehr verzerrtes Gesicht mit dem langen, schwarzen, stumpfen Haar, das aussah wie eine Ledermaske, die in großer Hitze geschmolzen war, über den Kopf des Opfers gestülpt. Die Hautränder ihres Gesichts waren mit beispielloser Präzision auf die Stirnpartie des Gesichts des Jungen genäht worden – doch hatte dem Täter die Zeit gefehlt, seine schauerliche Arbeit zu beenden. Die toten Lippen des Mädchens, die vertrocknet waren und sich kräuselten, umsäumten das kleine, dunkle Loch, hinter dem sich einstmals ihr Mund befunden hatte. Behutsam hielt ich mein Ohr davor. Und da hörte ich es: ein ganz schwaches Atmen, das wie der Hauch einer Feder mein Gesicht berührte.
Schnell zog ich mein Messer hervor, begann so vorsichtig wie eben möglich die Nähte aufzutrennen und nahm die scheußliche Maske schließlich herunter. Durch Wundwasser und Rückstände von Blut klebte das Gesicht des Mädchens förmlich auf dem des Jungen, und ich musste es herunterziehen; nur widerwillig lösten sich die beiden Gesichter voneinander. Das Gesicht des Jungen war leichenblass, wie blutleer, und übersät mit den blutigen Punkten, die von der Handarbeit des Mörders herrührten. Noch schrecklicher war, dass da, wo seine Augen hätten sein sollen, nur noch leere, blutige Augenhöhlen waren. Ich hielt Kheti das Gesicht das Mädchens hin, denn obwohl es in kläglichem Zustand war, konnte es uns helfen, sie zu identifizieren.
Im nächsten Moment schnappte der Junge plötzlich ganz schwach nach Luft, es klang eher wie ein leiser Aufschrei. Er versuchte sich zu bewegen, was seine zertrümmerten Knochen aber nicht zuließen; und dann durchflutete ihn eine Schmerzwoge.
»Versuch ganz still zu liegen. Ich bin ein Freund. Wer hat dir das hier angetan?«
Er konnte mir nicht antworten, denn sein Kiefer war gebrochen.
»War es ein Mann?«
Er hatte Mühe, mich zu verstehen.
»Ein junger Mann oder ein alter Mann?«
Jetzt fing er an zu zittern.
»Hat er dir irgendein Pulver verabreicht oder einen Saft gegeben, den du trinken musstest?«
Kheti griff nach meiner Schulter.
»Er kann dich nicht verstehen.«
Jetzt fing der Junge an zu stöhnen, leise und erbarmungswürdig wie ein Tier in entsetzlicher Not. Er erinnerte sich an das, was ihm widerfahren war. Luft zu holen schien plötzlich unvorstellbar schmerzhaft zu sein. Instinktiv griff ich nach seiner Hand, aber daraufhin wurde das Stöhnen zu einem grauenvollen Schmerzensschrei. Da ich um jeden Preis verhindern musste, dass er starb, benetzte ich seine Lippen und seine Stirn mit etwas Wasser. Das schien ihn zu beleben. Er öffnete leicht den Mund, als flehe er um mehr Wasser, und so gab ich es ihm. Aber dann verlor er das Bewusstsein. Entsetzt beugte ich mich über ihn, horchte wieder an seinem Mund und vernahm – den Göttern sei Dank – ein ganz schwaches Atmen. Er war noch am Leben.
»Wir brauchen einen Arzt, Kheti. Sofort!«
»Ich kenne aber keine Ärzte«, stammelte er.
Ich zermarterte mir das Hirn. Und dann hatte ich plötzlich eine Idee.
»Schnell, wir müssen ihn zu Nachts Haus tragen. Wir haben nicht viel Zeit.«
»Aber wie …?«, gab er zurück und hob dabei die Hände.
»Auf seinem Bett, du Idiot. Wie wohl sonst?«, schrie ich ihn an. »Ich will, dass er am Leben bleibt, und Nacht kann das erreichen.«
Und so bedeckte ich den Körper des Knaben zum Schrecken seiner Familie mit einem Leinentuch, als sei er bereits tot, und Kheti und ich hoben das Bett vom Boden – das selbst nicht schwer war, und sein gebrechlicher Leib hatte auch nicht viel Gewicht –, und dann bahnten wir uns unseren Weg durch die Straßen. Ich trug das Kopfteil, lief also voran, schrie jeden an, uns Platz zu machen, und versuchte dabei die ganze Zeit, die neugierigen Gesichter der Leute zu ignorieren. Sie schoben sich überall, um einen Blick auf das zu erhaschen, was wir da schleppten und diesen Wirbel verursachte. Doch sobald sie das weiße Laken über dem Körper erblickten, schlussfolgerten sie, dass wir eine Leiche transportierten, traten zurück und verloren schnell das Interesse. Ganz anders reagierte Nacht, als ich ihm den versehrten Leib unter dem Tuch zeigte. Kheti und ich waren schweißgebadet und lechzten danach, kühles Wasser zu trinken; doch der Junge war mir wichtiger. Auf der Straße hatte ich nicht gewagt, seinen Zustand zu überprüfen, und nur die ganze Zeit gebetet, dass ihm das unvermeidbare Ruckeln und Schuckeln des Bettes keine allzu großen Qualen bereitete. Ich hoffte, dass er nur ohnmächtig und nicht, um der Götter willen nicht, bereits im Reich der Toten war.
Nacht befahl den Dienern, den Jungen in eines seiner Gemächer zu tragen, und dann untersuchte er ihn vorsichtig. Kheti und ich sahen ihm nervös dabei zu. Als er fertig war, wusch er sich in einer Schüssel die Hände und bedeutete uns mit einem ernsten Nicken, wir sollten mit ihm nach draußen kommen.
»Mein Freund, ich muss gestehen, dass das hier das merkwürdigste Geschenk ist, das du mir je mitgebracht hast. Womit habe ich das verdient? Der Leib eines lahmen Knaben, die Knochen zerschmettert, das Gesicht voller seltsamer Nadelstiche, die Augen herausgerissen? Ich habe keine Vorstellung, nicht die geringste, was dich veranlasst haben könnte, ihn zu mir zu bringen, wie eine Katze, die ihrem Herrn die Überreste ihres Beutezugs nach Hause schleppt …«
Er war wütend. Und wie ich feststellte, galt für mich das Gleiche.
»Zu wem hätte ich ihn denn sonst bringen sollen? Ohne fachkundige Hilfe wird er sterben. Ich muss ihn aber an einem sicheren Ort wissen, bis es ihm wieder gut geht. Er ist meine einzige Spur. Nur er kann mir sagen, wer ihm das angetan hat. Vielleicht könnte er uns helfen, den Täter zu identifizieren. Wird er überleben?«
»Man hat ihm die Kiefergelenke ausgerenkt. Beide Arme und beide Beine sind an mehreren Stellen gebrochen. Ich fürchte, dass sich in seinen Augenhöhlen Infektionen bilden werden. Und neben all diesen mysteriösen Grausamkeiten, die man dem Körper des Jungen auf so präzise Weise zugefügt hat, sind da Nadelstiche in seinem Gesicht. Was hat es damit auf sich?«
Ich zog das Gesicht des Mädchens aus meiner Tasche und zeigte es ihm. Angewidert wandte Nacht sich ab.
»Als wir ihn fanden, war das hier auf sein Gesicht genäht. Es gehört zu einer anderen Leiche, die wir gefunden haben. Dieses Gesicht hier gehörte einem Mädchen. Ihr Name war Neferet.«
»Pack dieses Ding bitte weg«, jammerte Nacht. »Ich kann einfach nicht mit dir reden, wenn du mir die Überreste eines menschlichen Körpers unter die Nase hältst.«
Das leuchtete mir ein. Ich reichte das Gesicht an Kheti weiter, der es nur widerwillig ergriff und dann mit akribischer Vorsicht zurück in die Tasche steckte.
»Können wir jetzt reden?«