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Nacht nickte.

»Im Gegensatz zu dir bin ich an derart brutale Handlungen unserer Spezies nicht gewöhnt. Ich habe nie in einer Schlacht gekämpft. Bin nie beraubt oder überfallen worden. Habe mich nie mit jemandem geprügelt. Wie du sehr wohl weißt, verabscheue ich Gewalt. Allein schon der Gedanke daran bereitet mir Übelkeit. Verzeih mir also, wenn ich das, was für dich der Alltag ist, als maßlos schockierend empfinde.«

»Ich verzeihe dir. Aber sag mir: Kannst du ihn retten?«

Er seufzte.

»Möglich ist es. Vorausgesetzt, es bildet sich keine Infektion. Knochenbrüche können wir wieder einrichten. Das Blut können wir nicht heilen.«

»Und wann, meinst du, werde ich mit ihm reden können?«

»Mein Freund, dieser Junge ist im wahrsten Sinne des Wortes zertrümmert worden. Es wird Wochen, wenn nicht Monate dauern, bis diese Verletzungen ausgeheilt sind. Sein Kiefer ist eine Katastrophe. Wenn er überlebt, wird er Zeit benötigen, um sich daran zu gewöhnen, dass er blind ist. Es wird eine Weile dauern, mindestens einen Monat, bis er wieder sprechen kann. Vorausgesetzt, sein Geist hat durch die Sache keinen Schaden genommen und er ist überhaupt in der Lage zu verstehen, was man ihn fragt, und sich zu artikulieren.«

Ich starrte auf die Tür, die ins Zimmer des Jungen führte. Er war meine einzige Hoffnung. Ich fragte mich, was er mir erzählen konnte und ob es in einem Monat nicht längst zu spät war.

»Und was machen wir jetzt?«, fragte Kheti, als wir draußen vor Nachts Haus standen. Seine Stimme klang ruhig, aber er wirkte schockiert.

»Hast du irgendetwas über Neferets Arbeitsplatz herausfinden können?«

»Ich habe die Liste auf ein paar Etablissements eingrenzen können«, antwortete er. »Denen sollten wir einen Besuch abstatten.«

Er zeigte mir die Liste.

»Schön. Wann?«

»Am besten nach Sonnenuntergang. Wenn bei denen der Betrieb losgeht.«

Ich nickte.

»Warte im ersten auf mich. Und bring das da mit«, sagte ich und meinte damit das Gesicht, das er wieder in die Ledertasche gesteckt hatte.

»Was hast du nun vor?«, wollte er wissen.

»Ich würde jetzt gern nach Hause gehen, eine Flasche anständigen Rotwein trinken und meinem Sohn sein Abendessen füttern. Ich muss aber zum Palast zurück. Heute Nachmittag haben die Befragungen all derer stattgefunden, die Zutritt zu den königlichen Gemächern haben. Denen hätte ich eigentlich beiwohnen sollen.«

»Willst du, dass ich mitkomme?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Ich will, dass du zur Familie des Jungen gehst und ihnen erklärst, dass wir uns um ihn kümmern. Sag ihnen, dass er am Leben ist und wir zuversichtlich sind. Und sorg vor allem dafür, dass der Junge bewacht wird. Stell zwei Wachen ab, die den Eingang zu Nachts Haus rund um die Uhr im Auge behalten. Wir wollen nicht, dass dem Jungen noch einmal etwas zuleide getan wird. Wir können nicht riskieren, ihn zu verlieren.«

»Was ist, wenn er stirbt?«, fragte Kheti leise.

»Das weiß ich nicht«, gab ich zurück. »Bete zu den Göttern, dass er überlebt.«

»Du glaubst doch nicht an Götter«, erwiderte er.

»Das hier ist ein Notfall. Deshalb erwäge ich, meine Einstellung zu ändern.«

18

Ich musste mir verkneifen zu rennen, als ich mir – dieses Mal aus der Erinnerung heraus – meinen Weg zu den königlichen Gemächern bahnte. Tagsüber waren hier mehr Leute: In verschiedenen Räumen wurden Delegationen hoher Beamter, ausländischer Minister, Abgesandte und Machthaber unterhalten. Ich zeigte den Wachen meine Vollmacht, und sie überprüften sie sorgsam, bevor sie mich passieren ließen. Zumindest der Sicherheitsdienst war besser geworden.

»Bringt mich zu Simut«, befahl ich. »Auf der Stelle.«

Er und Khay waren in Khays Dienstzimmer. Als ich zur Tür hereinkam, sahen sie mich beide säuerlich an.

»Es tut mir leid. Ich hatte einen weiteren Notfall.«

»Welcher Notfall könnte denn wichtiger sein als dieser hier?«, tönte Khay mit wichtigtuerischer Miene.

Simut reichte mir schweigend eine Schriftrolle. Ich überflog die Liste, die gerade mal zehn Namen umfasste: die Leiter der Königlichen Domänen; der Wesir des Nordens und der Wesir des Südens; Huy, der Vizekönig von Kusch; der Obervermögensverwalter; der Kammerherr; der Fächerträger der Rechten Hand des Königs …

»Ich habe alle, die im Verlauf der letzten drei Tage in den königlichen Gemächern waren, hergebeten und befragt. Es ist ein Jammer, dass du dem nicht beiwohnen konntest. Dass man sie warten ließ, behagte ihnen nicht, und dass man sie befragte, behagte ihnen ganz und gar nicht. Das hat die allgemeine Unsicherheit, die im Palast herrscht, nur noch weiter verstärkt. Und ich fürchte, ich habe nichts herausgefunden, was irgendeinen von ihnen verdächtig macht«, sagte er.

»Willst du damit sagen, dass sie alle behaupten, Alibis zu haben?«, fragte ich gereizt. Ich ärgerte mich nicht nur über ihn, sondern auch darüber, wie viel Sorge mir bereitete, dass es hier keinerlei Fortschritte gegeben hatte. Er hatte recht. Ich hätte hier sein sollen.

Er nickte.

»Selbstverständlich sind wir im Moment noch dabei, die alle zu überprüfen, und morgen früh werde ich dir dazu Bericht erstatten.«

»Wo sind die Männer jetzt?«

»Ich habe sie gebeten zu warten, bis du kommst und mit ihnen sprichst. Was hätte ich auch sonst tun sollen? Es ist inzwischen dunkel, und sie sind erbost, weil sie nicht nach Hause zu ihren Familien zurückkehren können. Sie behaupten bereits, in den königlichen Gemächern gefangen gehalten zu werden.« Er schnaubte.

»Nun, wenn man bedenkt, was auf dem Spiel steht, sollte das noch unsere geringste Sorge sein. Wo stehen diese Männer? Ich meine, wem gegenüber sind sie loyal?«

Sofort ging Khay auf mich los.

»Ihre Loyalität gilt dem König und den Beiden Ländern. Wie könnt Ihr es wagen, etwas anderes zu unterstellen?«

»Ja, ja, das ist die offizielle Version, die kenne ich. Aber wer von denen gehört zu Ejes Männern?«

Unsicher sahen sie einander an. Aber es war Simut, der antwortete: »Alle.«

Als ich den Raum betrat, unterbrachen die großen Männer des Königreiches schlagartig ihre Gespräche, verstummten und drehten sich wie an einer Schnur gezogen um. Mit unverhohlener Feindseligkeit sahen sie mich an, blieben aber sitzen, um mich auch damit ihre Verachtung spüren zu lassen. Ich sah, dass man ihnen in Hülle und Fülle Wein und Speisen serviert hatte. Khay stellte uns alle vor, tat das wie immer mit übertriebener Sorgfalt, und so fiel ich ihm sofort ins Wort, als sich die erste Gelegenheit bot.

»Es ist kein Geheimnis mehr, dass irgendjemand irgendwie in den königlichen Gemächern Objekte hinterlegt, die darauf abzielen, den König und die Königin in Angst zu versetzen und zu bedrohen. Wir sind zu der Schlussfolgerung gelangt, dass es nur eine einzige Möglichkeit gibt, diese Objekte trotz der ausgezeichneten Sicherheitsvorkehrungen, die im Palast herrschen, dort zu deponieren, und zwar indem sie jemand hier hereinbringt, der über höchste Vollmachten verfügt und überall Zutritt hat. Und ich fürchte, meine Herren, das bedeutet, dass es sich bei dem Täter um einen von Euch handelt.«

Einen Augenblick lang herrschte eisiges Schweigen, dann sprangen sie alle auf und bellten Khay, Simut und mich empört an. Khay versuchte, die Gemüter auf diplomatische Weise zu beruhigen; er wedelte dabei mit den Händchen, als spräche er mit kleinen Kindern.

»Meine Herren, bitte! Bedenkt, dass dieser Mann die öffentliche Unterstützung des Königs genießt. Er tut hier lediglich, im Namen des Königs, seine Pflicht. Und wie Ihr Euch gewiss erinnert, ist er befugt, seine Ermittlungen durchzuführen, und ich zitiere hier die königlichen Worte ›gleichgültig, wohin sie ihn führen‹.«