Ich trank meinen Wein.
»Wem gehört der Laden?«
Er zuckte mit den Achseln.
»Denjenigen, denen das Gros dieses Viertels gehört. Wahrscheinlich einer der großen Familien, die mit den Tempeln verbunden sind, die zweifellos einen dicken Prozentsatz der Profite einstreichen.«
Ich nickte. Es war hinreichend bekannt, dass der gewaltige Reichtum der Tempel auf diversen, äußerst einträglichen Investitionen in der gesamten Stadt und den Gauen des Königreiches beruhte.
»Und mit wem treffen wir uns hier?«
»Mit der Geschäftsführerin. Sie ist eine gescheite Person.«
»Ich bin überzeugt, sie ist eine Seele von Mensch.«
Vorüber an blinden Musikern, die an ihren Instrumenten zupften, obwohl niemand ihnen zuhörte, bahnten wir uns unseren Weg durch die blökende Menge und schlichen anschließend durch einen stillen Gang, der nur von ein paar wenigen Öllampen erhellt wurde.
Von dem gingen weitere Flure ab, in denen sich hinter eleganten Vorhängen Räumlichkeiten verbargen, die groß genug waren für eine bequeme Matratze. Fette alte Kerle verkrochen sich in die Parzellen, um uns nicht über den Weg zu laufen, und zarte Mädchen und kichernde Knaben glitten an uns vorüber wie alberne Zierfische. Trotz des Weihrauchs, der überall verbrannt wurde, roch die abgestandene Luft nach menschlichen Ausdünstungen: Schweiß, verpesteter Atem, stinkende Füße, widerliche Achseln. Irgendwo hechelte und stöhnte jemand, hinter einem anderen Vorhang raspelte ein Mädchen Süßholz und kicherte, und gleich daneben agierte eine Frau mit der tiefen, leidenschaftlichen Inbrunst einer Hofsängerin. In der Ferne hörte ich Wasser spritzen und Gelächter.
Am Ende des Flurs war eine Tür, und davor standen zwei Schlägertypen, die so groß, ausdruckslos und hässlich waren wie unfertige Statuen. Wortlos unterzogen sie uns einer Leibesvisitation.
»Kann irgendjemand Zwiebeln riechen?«, fragte ich, da mir ein widerlicher Atem in die Nase stieg.
Der Schlägertyp, der mich abtastete, hielt kurz inne. Sein Gesicht erinnerte mich an einen lädierten Kochtopf. Der andere Typ legte beruhigend seine Pranke auf die breite Schulter des Kollegen und riet ihm mit einem wortlosen Kopfschütteln, meinen Sarkasmus zu ignorieren. Der Typ schnaubte wie ein Bulle und zeigte dann mit seinem Stummelfinger geradewegs auf die Stelle zwischen meinen Augen. Ich lächelte und schob den Finger weg. Der andere Knabe klopfte gegen die Tür.
Wir traten ein. Der Raum war niedrig und klein, aber auf dem Tisch stand eine Vase mit frischen Lotosblüten. Die Geschäftsführerin begrüßte uns mit höflicher Distanz. Sie trug eine langhaarige, kastanienbraune Perücke, wie es der letzte Schrei war, aber ihre feinen, wohlgeformten Züge zeigten keinerlei Regung, wirkten nahezu eingefroren, als habe sie längst vergessen, wie man lächelt. Sie bot uns Stühle und Kissen an. Sie selbst nahm elegant gegenüber von uns Platz, stützte das Kinn auf ihre Hand und wartete auf das, was da kommen würde.
»Sag mir bitte, wie du heißt.«
»Tacherit«, antwortete sie mit klarer Stimme.
Sie war also Syrerin.
»Ich heiße Rahotep.«
Schweigend nickte sie.
»Wir haben lediglich ein paar Fragen, das ist alles. Du persönlich brauchst dir also keine Sorgen zu machen.«
»Die mache ich mir auch nicht«, erwiderte sie gelassen.
»Wir untersuchen eine Mordserie.«
Leicht spöttisch hob sie die Augenbrauen.
»Wie aufregend.«
»Diese Gewalttaten waren ungewöhnlich brutaler Natur«, sprach ich weiter. »Kein Mensch verdient, auf die Weise zu sterben, wie diese jungen Leute gestorben sind. Ich versuche zu verhindern, dass noch weitere auf die gleiche Weise ihr Leben verlieren.«
»In diesen düsteren Zeiten ziehen die Leute es vor, den Blick von Dingen abzuwenden, die sie lieber nicht sehen wollen«, erwiderte sie ausweichend. Ihre Stimme klang dermaßen tonlos, dass ich nicht zu sagen vermochte, ob das ironisch oder ernst gemeint war.
»Ich will, dass du begreifst, wie ernst die Lage ist.«
Ich warf das tote Gesicht mit der fleckigen Krone aus schwarzem Haar vor ihr auf den Tisch.
Trotz der schonungslosen Fakten, die da plötzlich vor ihr lagen, blieben ihre Gesichtszüge wie versteinert. Aber in ihrem Blick veränderte sich etwas. Endlich: eine Reaktion. Sie schüttelte ihre rote Mähne.
»Nur ein Ungeheuer kann einer Frau so etwas antun.«
»Was er getan hat, ist grausam, hat aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine Bedeutung. Das war kein impulsiver Akt der Gewalt oder Leidenschaft. Dieser Mensch hier hat Gründe zu morden, und er tut es auf eine Art und Weise, die vermutlich für keinen anderen, wohl aber für ihn selbst Sinn ergibt. Es gilt, diesen Sinn zu verstehen«, sagte ich.
»Wenn das so wäre, gäbe es keine Ungeheuer.«
»Die gibt es auch nicht, es gibt nur Menschen.«
»Ich weiß nicht, ob ich mich dadurch besser oder schlechter fühle«, erwiderte sie.
»Das geht mir genauso«, erwiderte ich. »Wir müssen herausfinden, wer dieses Mädchen war. Wir glauben, dass sie vielleicht hier gearbeitet hat.«
»Vielleicht hat sie das. Wir haben viele Mädchen, die hier arbeiten.«
»Aber vermisst du eines?«
»Manchmal verschwinden diese jungen Dinger einfach. Das passiert ständig. Niemand interessiert sich dafür, was mit ihnen passiert. Es kommen immerzu neue.«
Ich beugte mich vor.
»Dieses Mädchen ist einen grauenvollen Tod gestorben. Das Mindeste, was wir tun können, ist, ihren Namen zu benutzen. Sie hatte eine Schlangentätowierung am Oberarm. Ihr Vermieter hat uns gesagt, dass sie Neferet hieß.«
Sie warf erneut einen kurzen Blick auf das Gesicht, und dann sah sie mich an und nickte.
»Ja, dann kannte ich sie. Sie hat hier gearbeitet. Viel wusste ich nicht über sie. Die Geschichten, die sie erzählen, kann man nie glauben. Sie schien mir aber eines der unschuldigeren und gutgläubigeren Mädchen zu sein. Sie hatte ein sonderbar trauriges Lächeln. Das hat sie für einige unserer Kunden nur noch anziehender gemacht. Sie erweckte den Eindruck, als gehöre sie in eine bessere Welt als diese hier. Sie behauptete, man habe sie geraubt und dass ihre Familie sie liebe, und deshalb war sie überzeugt, dass sie eines Tages kommen würden, um sie hier herauszuholen …«
»Woher sie stammte, hat sie nicht erzählt?«
»Ich glaube, sie kam aus einem Bauerndorf im Norden von Memphis. An den Namen kann ich mich nicht erinnern.«
»Es ist davon auszugehen, dass sie ihrem Mörder hier begegnet ist. Was bedeutet, dass er einer deiner Kunden ist. Er ist ein älterer Mann und gehört zur Elite. Ein gebildeter Mann. Möglicherweise ein Arzt.«
Sie schaute mich an.
»Wisst Ihr, wie viele dieser Männer Etablissements wie diesem hier diskrete Besuche abstatten? Und außerdem sind meine Angestellten angewiesen, den Kunden niemals Fragen zu ihrem Privatleben zu stellen.«
Ich versuchte mein Glück auf andere Weise.
»Gibt es irgendwelche Kunden oder Angestellte, die in diesem Etablissement Drogen nehmen?«
»Was für Drogen?«, hakte sie unschuldig nach.
»Schlafmittel. Schlafmohn …«
Sie tat so, als müsse sie da erst einmal überlegen.
»Wir würden niemanden akzeptieren, der in dieser Hinsicht nicht unbescholten ist. Ich tu, was in meiner Macht steht, um solche Dinge zu verhindern. Ich führe ein sauberes Geschäft.«
»Aber die Drogen sind überall …«
»Man kann mich weder für die Angewohnheiten meiner Kunden zur Rechenschaft ziehen, noch für das, was meine Angestellten in ihrer Freizeit treiben«, antwortete sie mit fester Stimme.
»Sie müssen die Droge aber irgendwo kaufen«, sagte ich.
Sie zuckte mit den Achseln und vermied es tunlichst, mir dabei in die Augen zu sehen.
»Händler, Mittelsmänner und Lieferanten gibt es immer. Wie in jedem Geschäftsbereich, und erst recht, wenn sich mit den Geschäften ein Vermögen verdienen lässt.«