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Der König und die Königin verließen den Tempelkomplex, überquerten den Sonnenhof, wo die Priester sich auf dem sorgfältig gefegten Boden erniedrigten, und schritten durch die Säulenhalle zu ihrem bereitstehenden Streitwagen, der sie in zügigem Tempo fortbrachte und dabei golden erglühte.
Bevor ich ihnen zusammen mit Simut in dessen Streitwagen folgte, sah ich mich noch einmal um, schaute auf das mit Menschen übersäte Gelände vor der Säulenhalle und sah Eje in der Mitte des Ganzen stehen. Reglos wie ein Stein sah er uns allen nach. Es schien, als brächen und ergössen sich um ihn her Wogen von Spekulationen und Erregung. Die Neuigkeit würde sich sehr schnell überall in der Stadt herumsprechen; in den Ministerien und in den Schreibstuben, in den Korn- und in den Schatzkammern; und nach einer offiziellen Proklamation in Theben würden Boten sie in alle großen Städte und Orte tragen – nach Memphis, Abydos, Heliopolis und Bubastis sowie in den Süden nach Elephantine und in die Garnisonsstädte Nubiens.
Wir folgten dem königlichen Streitwagen zum Fluss zurück, wo sich eine große Menschenmenge versammelt hatte, die laut Gebete sprach und Beifall klatschte, und dann bestiegen wir das königliche Schiff, um den Fluss zu überqueren. Der König und die Königin blieben während der Überfahrt in ihrem privaten Bereich. Der Vorhang war zugezogen. Als wir ablegten und der Lärm, der am Anlegesteg geherrscht hatte, leiser wurde, konnte ich hören, dass sie sich leise miteinander unterhielten. Die Worte waren nicht zu verstehen, doch vernahm ich den Klang von Anchesenamuns Stimme, die beruhigend und aufmunternd auf die quengelige Stimme ihres Gemahls einredete.
Als das Schiff vor dem Palast anlegte, ging das Königspaar von Bord und wurde an Land sofort von einer geschlossenen Reihe von Palastwachen umringt, die zu ihrem Schutz abgestellt waren. Sie eilten in den Palast, als sei sogar das Licht der Sonne gefährlich.
Khay begleitete Simut und mich. Endlich wirkte er mal begeistert, und er sprach auch ganz schnell.
»Eje wird wütend sein!«, wisperte er. »Damit hatte er nicht gerechnet.«
»Ihr indes schon«, sagte ich.
»Nun ja, ich darf mich rühmen, dass ich das Vertrauen der Königin genieße. Sie hätte diesen Schachzug in dem großen Spiel nicht gewagt, ohne vorher aus denen, die ihr nahestehen, ein Netzwerk aus Anhängern zu bilden.«
Das wird sie auch brauchen, dachte ich. Eje hielt die Beiden Länder im Würgegriff, er herrschte nach wie vor über die Priesterschaft, die Ministerien und das Schatzamt. Haremhab kontrollierte die Armee.
»Aber um Haaresbreite wäre es wieder eine Katastrophe geworden. Wie konnte das passieren? Dem muss sofort nachgegangen werden. Zum Glück hat es den König nicht von seiner Proklamation abgehalten«, sagte Khay.
Simut reagierte gereizt.
»Man bringt den Oberarchitekten bereits her, damit er verhört werden kann.«
»Und Ihr, Rahotep, seid noch keinen Schritt weitergekommen. Ihr wisst immer noch nicht, wer der Schuldige sein könnte, der sich, wie es den Anschein hat, nicht nur innerhalb der königlichen Privatgemächer, sondern auch auf dem Gelände des heiligen Tempels frei bewegen kann!« Khay sagte das, als sei es nun an der Zeit, die Schuldzuweisungen gleichmäßig zu verteilen.
»Wir kämpfen gegen einen Schatten«, erwiderte ich.
»Was absolut nichts besagt«, spöttelte er zu meiner Verärgerung.
»Wichtig ist, dass wir begreifen, wie dieser Mann denkt. Alles, was er tut, ist seiner Ansicht nach ein Hinweis. Also müssen wir uns jede Sachlage sorgfältig ansehen und versuchen, die jeweilige Bedeutung zu entziffern und zu verstehen. Das Problem ist, dass er all unsere Bemühungen, die Situation in den Griff zu bekommen, damit untergräbt, dass er immer wieder neue Dinge anzettelt. Für ihn ist das ein elegantes Spiel. Er fordert uns heraus, will, dass wir ihn verstehen, seine Beweggründe sehen und ihn dann schnappen. Bislang sind wir da in keinerlei Hinsicht erfolgreich gewesen. Wir haben noch gar nicht richtig angefangen, ihn ernst zu nehmen. Vielleicht haben wir ihn aber auch zu ernst genommen, denn wenn wir einfach ignorieren würden, was er treibt: Welche Macht hätte er dann noch?«
»Ihr redet wie ein Krieger, der seinen Feind bewundert«, erwiderte Khay in sarkastischem Ton.
»Ich kann seine Intelligenz und seine Fähigkeiten respektieren, ohne zu bewundern oder zu respektieren, wie er sie nutzt.«
Anchesenamun und Tutanchamun erwarteten uns im Empfangssaal, wo sie auf zwei offiziellen Thronen saßen. Die Stimmung war euphorisch, obwohl auch ein gewisses Maß an Angst zu spüren war, denn reibungslos war das Ganze nicht verlaufen.
Khay, Simut und ich entboten unsere formellen Glückwünsche.
Tutanchamun sah uns hochkonzentriert an.
»Neigt die Köpfe vor mir«, brüllte er im nächsten Moment und sprang dabei auf. »Wie ist es möglich, dass man mich wieder so demütigt? Wie kann es angehen, dass ich immer noch nicht sicher bin, nicht einmal in meinem eigenen Tempel?«
Alle standen wir schweigend und mit gesenkten Köpfen da.
»Aber mein Gemahl«, warf Anchesenamun rasch ein, »lasst uns unsere Optionen überdenken. Lasst uns den guten Rat dieser getreuen Männer annehmen.«
Er setzte sich wieder auf seinen kleinen Thron.
»Schaut auf.«
Wir spurten.
»Keiner von euch war bislang in der Lage, mich vor all diesen Gefahren zu bewahren. Ich hatte aber eine Idee. Und ich finde, dass es eine sehr gute Idee ist. Im Grunde könnte sie all unsere Probleme auf einen Schlag lösen.«
Wir warteten darauf, dass er weitersprach. Unsere Gesichter verrieten bestimmt eine ganze Palette an Emotionen.
»Auf welch altehrwürdige Weise proklamiert ein neuer König seine Macht und seinen Mut? Mit einer Löwenjagd! Wir haben uns selbst zum König ernannt. Es gibt also kein geeigneteres Mittel, dem Volk unsere Tauglichkeit zu beweisen, als zur Jagd ins Rote Land zu ziehen und mit der Trophäe eines Löwen zurückzukehren.«
Khay war der Erste, der etwas dazu sagte.
»Ein Geniestreich«, ging er es sehr vorsichtig an, »eindeutig. Das würde ein äußerst positives Bild in der Öffentlichkeit schaffen. Aber habt Ihr bedacht, Majestät, welch großer Gefahr Ihr Euch damit aussetzen würdet?«
»Bin ich daran nicht gewöhnt? Hier, in meinen eigenen Gemächern, die angeblich sicher sind, angeblich beschützt werden, herrscht größere Gefahr«, erwiderte er übelgelaunt.
Sacht legte Anchesenamun ihre Hand auf die des Königs.
»Darf ich etwas sagen?«, fragte sie ihn.
Er nickte.
»Es kommt mir so vor«, sagte sie, »als hinge der Erfolg des Königtums in großem Maße von der sorgfältig inszenierten Darstellung dieser Herrschaft ab, von der Macht und den Tugenden, die die Person des Königs nach außen zeigt. Siegesparaden, Triumphzüge und so weiter sind die Mittel, mit denen wir dem Volk gegenüber die Glorie des Königtums vermitteln. Deshalb könnte eine symbolische Jagd, bei der der König gut geschützt und die innerhalb einer der großen Jagdgebiete abgehalten wird, momentan äußerst nützlich sein.«