Выбрать главу

Lebe dein ka

und mögest du Millionen von Jahren verbringen

du, der du Theben liebst

mit dem Gesicht im Nordwind

und mit deinen Augen Glückseligkeit erblicken

»Das ist ein wunderschönes Gedicht«, sagte der König mit seiner hellen, hohen Stimme.

Er hatte den Raum betreten, ohne dass es mir aufgefallen war. Ich stellte den Kelch vorsichtig wieder zurück. Dann verneigte ich mich vor ihm und entbot ihm meine Wünsche für seinen Frieden, seine Gesundheit und seinen Wohlstand.

»Lebe dein ka … geheimnisvolle, aber wundervolle Worte. Wie ich höre, hast du selbst einmal Gedichte geschrieben. Was meinst du, was die Worte bedeuten?«, fragte er mich.

»Das ka ist die geheimnisvolle Lebenskraft, die allem innewohnt, allen Dingen und jedem Einzelnen von uns …«

»Es ist das, was uns von den Toten unterscheidet und von toten Dingen. Aber welche Wahrheit steckt dahinter? Was heißt das, dass man es voll ausleben soll?«

Ich ließ mir die Frage durch den Kopf gehen.

»Ich schätze, es ist ein Aufruf an jeden Menschen, gemäß dieser Wahrheit zu leben, weil wir dadurch, dass wir das tun, wenn wir dem Gedicht Glauben schenken, glücklich werden, womit die Glückseligkeit in der Ewigkeit gemeint ist. Millionen von Jahren …«

Er lächelte und zeigte mir seine perfekten kleinen Zähne.

»Es ist in der Tat ein großes Mysterium. Ich selbst fühle mich im Moment beispielsweise, als würde ich endlich wirklich mein ka leben. Diese Reise und diese Jagd sind mein Schicksal. Aber du teilst die Ansichten dieses Gedichts vielleicht nicht. Oder doch?«, fragte er.

»Ich habe Probleme mit dem Wort Glückseligkeit. Ich bin ein Medjai. Ich erlebe nicht viel Glückseligkeit. Vielleicht suche ich aber auch nur an den verkehrten Stellen danach«, gab ich vorsichtig zur Antwort.

»Für dich ist die Welt ein harscher und gefährlicher Ort.«

»Das ist richtig«, gab ich zu.

»Die Vernunft gibt dir recht«, antwortete er. »Trotzdem glaube ich, dass es auch anders sein kann.«

Er setzte sich auf den einzigen Stuhl im Raum. Passend zu allem anderen war auch das kein gewöhnlicher Stuhl, sondern ein kleiner Thron, der aus Ebenholz gefertigt, zum Teil mit Blattgold überzogen und mit Einlegearbeiten aus Glas und buntbemalten Steinen verziert war, die geometrische Muster formten. Was mich erstaunte, war, dass ich kurz, bevor er Platz darauf nahm, ganz oben am Stuhl die Sonnenscheibe erblickte – das Symbol der Regierungszeit und Herrschaft seines Vaters, das inzwischen lange verbannt war. Er stellte seine Pantoffeln auf die Fußstütze, in die eine Darstellung von Ägyptens Feinden als Gefangene in Fesseln eingearbeitet war, und schaute mich mit seinem so seltsam intensiven Blick an.

»Verwirrt dich dieser Thron?«

»Es ist ein wunderschönes Stück.«

»Er wurde zu Zeiten meines Vaters für mich angefertigt.«

Das Äffchen sprang auf seinen Schoß und beobachtete mich nervös mit seinen feucht glänzenden Augen. Mit der Hand strich er dem Tier über das winzige Köpfchen, und es plapperte ihm irgendetwas zu. Er gab dem Kleinen eine Nuss zum Knabbern und spielte mit der anderen Hand an dem herrlichen Anhänger, der an einer Kette an seinem Hals hing.

»Aber die Symbole darauf sind heute nicht mehr erlaubt«, warf ich vorsichtig ein.

»Nein. Sie sind verboten. Aber nicht alles an der Aufklärung meines Vaters war falsch. Ist das nicht sonderbar, dass ich das Gefühl habe, ausgerechnet mit dir offen darüber reden zu können? Ich bin mit seiner Religion groß geworden, und vielleicht ist das der Grund, dass sie sich für mich richtig anfühlt, nicht so, dass ich alles Wort für Wort glaube, aber aus spiritueller Sicht; da fühlt sie sich so richtig an wie das eigene Herz.«

»Aber Ihr, Majestät, habt ihre Abschaffung und Verbannung angeordnet.«

»Ich hatte keine andere Wahl. Der Lauf der Zeit arbeitete gegen uns. Ich war noch ein Kind. Eje setzte sich durch, und zum damaligen Zeitpunkt hatte er recht – denn wie hätten wir sonst die Ordnung in den Beiden Ländern wiederherstellen sollen? Aber im stillen Kämmerlein meines Herzens und meiner Seele verehre ich nach wie vor diesen einen Gott, den Gott des Lichts und der Wahrhaftigkeit. Und ich weiß, dass ich damit nicht allein stehe.«

Die Tragweite dieser Aussage war verblüffend. Hier saß der König und bekannte sich dazu, einer verbannten Religion anzuhängen, deren Wahrzeichen man in seinem Namen zerstört und von deren Priestern man sich auf seine Weisung hin distanziert hatte. Ich fragte mich, ob das auch für Anchesenamun galt.

»Eines muss ich dir gestehen, Rahotep. Obwohl ich weiß, dass es die Pflicht eines Königs ist, sich dabei zu zeigen, wie er einen Löwen, den König der Tiere, besiegt und tötet, verspüre ich in Wahrheit nicht den geringsten Wunsch, so etwas zu tun. Warum sollte ich eine derart herrliche Kreatur und ihre wilde Seele töten? Lieber würde ich ihn in all seiner Macht und Anmut beobachten und von seinem Beispiel lernen. In meinen Träumen habe ich manchmal den kraftvollen Körper eines Löwen und zum Denken den weisen Kopf von Thot. Nur dann wache ich auf und erinnere mich, dass ich ich bin. Und einen Augenblick später erinnere ich mich dann, dass ich der König bin und sein muss.«

Er blickte auf seine Arme und Beine, als seien sie Fremde.

»Ohne einen kraftvollen Geist ist ein kraftvoller Körper bedeutungslos.«

Er lächelte, beinahe entzückt, als freue er sich über meinen linkischen Versuch, ihm zu schmeicheln. Mir kam plötzlich der merkwürdige Gedanke, er würde mich mögen.

»Erzähl mir von meinem Vater«, sagte er und deutete mit der Hand auf einen niedrigen Schemel, auf dem ich zu seinen königlichen Füßen Platz nehmen konnte.

Mit seiner Aufforderung überraschte er mich einmal mehr. Sein königlicher Verstand funktionierte auf eigentümliche Weise; er bewegte sich unerwartet schnell und seitwärts, und damit irgendwie wie ein Krebs.

»Was würdet Ihr gern wissen?«, erwiderte ich.

»Meine Erinnerung an ihn verblasst mit jedem Tag mehr. Ich klammere mich an gewisse Bilder, aber die sind wie ein alter Gobelin: Die Farben sind verblichen, die Stickereien ausgefranst, und ich habe Angst, dass ich mich bald gar nicht mehr an ihn erinnern kann.«

»Ich glaube, dass er ein großer Mann war, der eine gänzlich neue Vision von der Welt hatte. Was er getan hat, bedurfte großen persönlichen Mutes und eines enormen politischen Willens. Ich glaube allerdings auch, dass er die Fähigkeit der Menschen, sich selbst zu vervollkommnen, völlig überschätzt hat. Und das war der Haken an seiner großen Erleuchtung und Aufklärung«, sagte ich.

»An Vollkommenheit glaubst du also auch nicht?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Nicht in diesem Leben. Der Mensch ist zur Hälfte Gott, zur Hälfte ein Untier.«

»Das ist eine sehr skeptische Einschätzung. Die Götter haben mehrmals Versuche unternommen, eine perfekte Menschheit zu erschaffen, waren aber jedes Mal unzufrieden mit dem Ergebnis und haben ihre Arbeit weggeworfen und die Welt dem Chaos überlassen. Ich glaube, das ist es, was meinem Vater passiert ist. Das war aber nicht das Ende der Geschichte. Erinnerst du dich an sie? Re mit den Knochen aus Silber und der Haut aus Gold, mit den Haaren und Zähnen aus Lapislazuli und dem Auge, aus dessen Blick die Menschheit geboren wurde, verstand die Heimtücke, die in den Herzen der Menschen wohnte, und schickte Hathor zur Erde, damit diese in der Gestalt von Sekhmet der Rächerin jene niedermetzelte, die sich gegen ihn verschworen hatten. Doch tief drinnen hatte Re Mitleid mit seinen Kreaturen. Und deshalb änderte er seine Meinung. Und er täuschte die Göttin. Er braute das rote Bier der Götter, und das war so köstlich, dass sie sich betrank und nicht bemerkte, dass das, was die Wüste befleckte, nicht das Blut der Menschheit war; und nur deshalb haben wir ihre Rache überlebt, aufgrund des Mitleids von Re.«