Er streichelte sein Äffchen, als sei das die Menschheit und er selbst Re.
»Überlegst du jetzt, warum ich dir diese Geschichte wohl erzählt habe?«, fragte er leise.
»Ich frage mich, ob Ihr es getan habt, weil Ihr nicht Euer Vater seid. Vielleicht habt Ihr sie mir erzählt, weil er die Welt, obwohl er nach Vollkommenheit strebte, an den Rand einer entsetzlichen Katastrophe geführt hat. Und vielleicht wollt Ihr die Welt aufgrund Eures Mitleids vor einer Katastrophe bewahren«, schloss ich.
Er sah mich an.
»Vielleicht denke ich genau das. Aber was ist mit Hathor und ihrer Gier nach Blut?«
Ich antwortete ihm ehrlich. »Das weiß ich nicht«, sagte ich.
»Ich glaube, Vergeltung folgt einem Muster. Ein Verbrechen hat ein weiteres Verbrechen zur Folge, das wieder ein Verbrechen zur Folge hat und so weiter, bis zum Ende aller Dinge. Wie können wir uns also von diesem Muster lösen und diesem Labyrinth aus Rache und Leid entkommen? Nur durch einen Akt außerordentlicher Vergebung … Aber sind die Menschen fähig zu derartiger Barmherzigkeit? Nein. Die Verbrechen meines Vaters hat man mir bis heute nicht verziehen. Vielleicht wird man sie mir nie verzeihen. Und falls das so ist, muss ich beweisen, dass ich besser bin als er. Und deshalb sind wir hier, reisen, umringt von Furcht, durch die Dunkelheit, damit ich im Triumphzug mit einem wilden Löwen zurückkehren kann. Vielleicht werde ich mir dadurch dann selbst als König einen Namen machen können; nicht als Sohn meines Vaters. Eine merkwürdige Welt ist das. Und du bist hier, um mich vor ihr zu beschützen, wie das Auge von Re.«
Er griff in sein Gewand und zog einen Ring hervor, den ein kleines, aber sehr feines Schutzauge zierte. Er gab ihn mir. Ich steckte ihn an meinen Finger und bedankte mich, indem ich mich verneigte.
»Ich gebe dir dieses allsehende Auge, auf dass dein Blick so kraftvoll werde wie der des Re. Unsere Feinde sind wie Schatten. Immer mit uns. Du musst sie sehen. Du musst lernen, in der Finsternis zu sehen.«
26
Die starke Strömung trieb uns voran, immer weiter Richtung Norden, auf Memphis zu. Simut und seine Männer hielten Tag und Nacht Wache. Ich war unruhig, konnte nicht schlafen und fühlte mich auf dem Wasser wie in einer Falle. Jedes Mal, wenn der König ein wenig frische Luft schnappte, was nicht häufig vorkam, stellten wir sicher, dass wir uns nicht gerade in der Nähe irgendwelcher Dörfer befanden. Aber selbst dann drohte aus jedem Feld und jedem Palmenhain Gefahr, denn wir boten eine extravagante Zielscheibe. Ich stand an Deck und sah bitterarme Dörfer an uns vorübergleiten, die man in den Schatten von Dattelpalmen gebaut hatte, enge, sich windende Lehmstraßen, in denen es von nackten Kindern und Hunden wimmelte, und aus einem einzigen Raum bestehende Hütten, die kaum größer waren als ein Stall, in denen ganze Familien zusammen mit ihren Tieren hausten. Auf den Feldern bewirtschafteten Frauen, die wundersamerweise bunte und saubere Gewänder trugen, die makellos grünen und goldenen Ackerreihen mit Gerste und Weizen, Zwiebeln und Kohl. Alles sah idyllisch und friedlich aus, aber nichts ist, wonach es aussieht: Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang rackerten diese Frauen sich ab, um ihre Getreidesteuern entrichten zu können, die sie zahlen mussten, um das Land überhaupt bewirtschaften zu können, das sie aller Wahrscheinlichkeit nach von einer der reichen Familien gepachtet hatten, die behaglich auf ihren kostbar eingerichteten und luxuriösen Anwesen in Theben lebten.
***
Nach drei Tagen näherten wir uns der beinahe ausgestorbenen Stadt Achet-Aton. Ich stand am Bug und schaute auf den Höhenzug aus zerklüfteten roten und grauen Felsen hinter der Stadt. Erst vor wenigen Jahren war das hier der Schauplatz von Echnatons großem Experiment gewesen: eine neue, strahlende, weiße Hauptstadt der Zukunft; gewaltige Türme, offene Sonnentempel, Behörden und Vorstädte, die aus Luxusvillen bestanden. Nach dem Tod von Tutanchamuns Vater waren die Ministerien jedoch Stück für Stück wieder nach Theben oder Memphis zurückgekehrt. Und dann war wie ein Rachefluch die Pest gekommen und hatte Hunderte dahingerafft, die hiergeblieben waren, weil sie keine Arbeit hatten oder nicht wussten, wohin sie hätten gehen sollen. Es wurde behauptet, diese Pest habe auch die anderen Töchter Echnatons und Nofretetes getötet, denn sie waren seitdem aus dem öffentlichen Leben verschwunden. Jetzt hieß es, dass die Stadt, wenn man von dem wenigen Personal, das für die Grundversorgung notwendig war, absah, so gut wie ausgestorben, von Fliegenlarven befallen und immer mehr dem Verfall geweiht war. Doch wie Simut mir zu meinem Erstaunen mitteilte, verspürte der König den sehnlichen Wunsch, der Stadt einen Besuch abzustatten.
Und so kam es, dass wir früh am nächsten Morgen, gerade als die ersten Vögel zu singen begannen, die Flussnebel wie ein eisiger Hauch über die glänzenden schwarzen Wasser wehten und sich die Schatten der Nacht noch lang auf dem Boden rekelten, in Begleitung einer Einheit Wachsoldaten von unserem ankernden Schiff auf den ausgetrockneten Boden der Geschichte traten.
Mit dem König, der seine weißen Gewänder und die Blaue Krone trug und einen goldenen Gehstock mit einem gläsernen Knauf mit sich führte, einem Wachsoldaten vor uns und Wachen hinter uns, die alle Rüstungen und frisch polierte Waffen trugen, um damit jeden neugierigen Bauern abzuschrecken, der von diesem unerwarteten Besuch aus einer anderen Welt wie geblendet war, machten wir uns über menschenleere Trampelpfade, die nur wenige Jahre zuvor belebte Durchgangsstraßen gewesen waren, auf den Weg in Richtung Stadt. Als wir den eigentlichen Stadtkern erreichten, sah ich sofort, welche Folgen der Exodus hatte: Die Mauern, einstmals frisch gestrichen, waren jetzt zu staubigem Grau und Braun verblasst. In den früher sorgsam bepflanzten, stilvollen Gärten wuchs jetzt wild das Unkraut, und die Wasserbecken der Reichen waren geborsten und leer. Ein paar Beamte und Diener gingen auf diesen ausgestorbenen Pfaden immer noch zur Arbeit, aber nicht sehr zielstrebig, wie es schien, und blieben wie angewurzelt stehen, um verblüfft unser Grüppchen in Augenschein zu nehmen. Sobald der König an ihnen vorüberschritt, fielen sie auf die Knie.
Schließlich standen wir auf der Königlichen Straße. Die Sonne hatte den Horizont inzwischen erklommen, und schlagartig war es heiß. Die Prachtstraße, die früher gefegt worden war, um für die Ankunft der goldenen Streitwagen von Echnaton und der königlichen Familie in makellosem Zustand zu sein, war jetzt ein leerer Hohlweg für Geister und den staubigen Wind. Wir kamen zum Ersten Pylon des Großen Aton-Tempels. Die hoch in den Himmel ragenden Lehmziegelmauern zerbröckelten. Die langen, bunten Fahnen, die früher im Nordwind geflattert hatten, waren zerfetzt und ihre Farben von der bleichenden Macht der Sonne versengt. Die hohen Holztore hingen in verrosteten Scharnieren. Einer der Wachsoldaten stemmte sie auf, und das Einzige, was das ausgelaugte Holz dem entgegenzusetzen hatte, war ein widerwilliges Ächzen und Knarren. Wir betraten den gewaltigen Platz. Früher hätten hier Hunderte von Opfertischen gestanden und Tausende von Anbetern in strahlend weißen Gewändern, die ihre Hände gemäß des neuen Rituals der Sonne entgegenstreckten, Obst und Blumen ins Licht hielten und sogar Babys, um den Segen der Abendsonne zu empfangen. Die vielen Steinstatuen von Echnaton und Nofretete starrten immer noch über den gewaltigen Platz, aber das Einzige, was sie jetzt noch sahen, war Verfall, das Scheitern ihrer großen Vision. Ein paar der Skulpturen waren umgestürzt und lagen entweder mit den Gesichtern nach unten da oder aber starrten blind in den Himmel.